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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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als hundert der scharfsinnigsten und gelehrtesten Redner. Unser Wauderprediger
hat sicherlich weder Hebräisch und Griechisch, noch Dogmatik studirt. Dennoch
erscheint er der Mehrzahl seiner Zuhörer und darunter wohl auch einigen von
den Ungläubigen, wenn er jetzt die Bibel ausschlägt und ihnen als Text den
Spruch: "Betrübt nicht den heiligen Geist Gottes" vorliest, wie ein Prophet,
der gekommen ist, ihre Herzen zu öffnen und bloßzulegen. Er weiß, wie
seine Leute zu fassen sind, er kennt ihre Lebens- und Denkweise, er ist von
ihrem Fleisch und Blut.

Er beginnt mit einem heftigen Angriff anf den Tanz von vorhin, wobei
er bemerkt, das Tanzen sei den Menschen vom Teufel gelehrt worden, da es
ihnen den Himmel verschließe und sie der Hölle zuHüpfen lasse. Dann geißelt
er den Hochmuth und die Anmaßung, wobei man an dem Hinwenden der Ver¬
sammlung nach einer bestimmten Stelle gewahr wird, daß die raschen, kühnen
Striche, mit denen die Züge eines Hochmüthigen von ihm gezeichnet werden,
auf einen von den Führern der Rowdies gemünzt sind, die sich in den Kreis
der Gläubigen gedrängt haben. Weiterhin wirft er sich mit Ungestüm auf
andere Sünden der Leute dieser Gegend, durch welche sie nach seiner Meinung
"den Geist Gottes von sich treiben", und bei jedem Abschnitt seiner Rede
malt er ihnen mit glühenden Farben den Brand der Hölle und das jüngste
Gericht. Allmählich wirkt seine rauhe Rede und seine feierliche Entrüstung
auch sichtbar auf die Zuhörer. Jeder findet sich augenscheinlich vor dein
Richterstuhle seines Gewissens und die Strafe seiner Missethaten gestellt.
Einige erbleichen und zittern, andere blicken finster drein, Weiber und Männer
schluchzen laut, als der Prediger auf "sterbenden Freunden gemachte Ver¬
sprechungen" und "auf Gelübde, Gott dargebracht am offenen Grabe Heimge¬
gangener Kinder," anspielt. Man Hort Aufschreie von grellen Frauenstimmen
und dem tiefen Baß der Männer.

Wieder faßt der Redner eine bestimmte Persönlichkeit in's Auge. Er
redet von der Rachsucht und zeigt, wie der Rachbegierige "dem Mörder gleich
sei, der seinen Feind schon umgebracht und dessen blutigen, verstümmelten Leib
schon unter den Blättern des Waldes verscharrt habe, wo niemand als der
Wolf ihn finden könne". Er spricht mit donnernder Stimme, und der junge
Mann, deu er meint, steht bleich da wie ein armer Sünder und zittert wie
Espenlaub. Der Prediger hält jetzt inne und beginnt mit Thränen in deu
Augen im Ton tiefer Rührung: "O junger Mann, ich sehe Blutflecken an
deinen Händen. Wie kannst du wagen, sie aufzuheben zum Richter aller
Menschenkinder. Du bist ein zweiter Kam, der Herr sendet seinen Boten heute
zu dir, um sich uach dem zu erkundigen, den du bereits in deinem Herzen
umgebracht hast. Du bist ein Mörder! Nichts als Gottes Gnade kann dich


Grcnzbowi III. 1379. 20

als hundert der scharfsinnigsten und gelehrtesten Redner. Unser Wauderprediger
hat sicherlich weder Hebräisch und Griechisch, noch Dogmatik studirt. Dennoch
erscheint er der Mehrzahl seiner Zuhörer und darunter wohl auch einigen von
den Ungläubigen, wenn er jetzt die Bibel ausschlägt und ihnen als Text den
Spruch: „Betrübt nicht den heiligen Geist Gottes" vorliest, wie ein Prophet,
der gekommen ist, ihre Herzen zu öffnen und bloßzulegen. Er weiß, wie
seine Leute zu fassen sind, er kennt ihre Lebens- und Denkweise, er ist von
ihrem Fleisch und Blut.

Er beginnt mit einem heftigen Angriff anf den Tanz von vorhin, wobei
er bemerkt, das Tanzen sei den Menschen vom Teufel gelehrt worden, da es
ihnen den Himmel verschließe und sie der Hölle zuHüpfen lasse. Dann geißelt
er den Hochmuth und die Anmaßung, wobei man an dem Hinwenden der Ver¬
sammlung nach einer bestimmten Stelle gewahr wird, daß die raschen, kühnen
Striche, mit denen die Züge eines Hochmüthigen von ihm gezeichnet werden,
auf einen von den Führern der Rowdies gemünzt sind, die sich in den Kreis
der Gläubigen gedrängt haben. Weiterhin wirft er sich mit Ungestüm auf
andere Sünden der Leute dieser Gegend, durch welche sie nach seiner Meinung
„den Geist Gottes von sich treiben", und bei jedem Abschnitt seiner Rede
malt er ihnen mit glühenden Farben den Brand der Hölle und das jüngste
Gericht. Allmählich wirkt seine rauhe Rede und seine feierliche Entrüstung
auch sichtbar auf die Zuhörer. Jeder findet sich augenscheinlich vor dein
Richterstuhle seines Gewissens und die Strafe seiner Missethaten gestellt.
Einige erbleichen und zittern, andere blicken finster drein, Weiber und Männer
schluchzen laut, als der Prediger auf „sterbenden Freunden gemachte Ver¬
sprechungen" und „auf Gelübde, Gott dargebracht am offenen Grabe Heimge¬
gangener Kinder," anspielt. Man Hort Aufschreie von grellen Frauenstimmen
und dem tiefen Baß der Männer.

Wieder faßt der Redner eine bestimmte Persönlichkeit in's Auge. Er
redet von der Rachsucht und zeigt, wie der Rachbegierige „dem Mörder gleich
sei, der seinen Feind schon umgebracht und dessen blutigen, verstümmelten Leib
schon unter den Blättern des Waldes verscharrt habe, wo niemand als der
Wolf ihn finden könne". Er spricht mit donnernder Stimme, und der junge
Mann, deu er meint, steht bleich da wie ein armer Sünder und zittert wie
Espenlaub. Der Prediger hält jetzt inne und beginnt mit Thränen in deu
Augen im Ton tiefer Rührung: „O junger Mann, ich sehe Blutflecken an
deinen Händen. Wie kannst du wagen, sie aufzuheben zum Richter aller
Menschenkinder. Du bist ein zweiter Kam, der Herr sendet seinen Boten heute
zu dir, um sich uach dem zu erkundigen, den du bereits in deinem Herzen
umgebracht hast. Du bist ein Mörder! Nichts als Gottes Gnade kann dich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/159>, abgerufen am 23.11.2024.