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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Lippen (zum Schwur nach englischer Weise) auf die aufgeschlagene Bibel ge¬
drückt hat, wartet er mit demüthig gesenktem Haupte der Dinge, die da kommen
sollen. "Was ist Ihr Beruf?" fragt ihn der Richter. -- "Ich bin eine Leuchte
des Herrn", antwortet Herr Ebenezer Choate, indem er die Augen, feucht von
Dankgefühl, zum Himmel erhebt. -- "Wie sagten Sie?" erkundigt sich der
Richter, sich mit der Miene eines Mannes vorbeugend, der falsch gehört zu
haben glaubt. -- "Ich bin eine Leuchte des Herrn", wiederholt der Zeuge mit
süßlich näselnder Stimme, und die Zuschauer lächeln.

"Welcher Denomination gehören Sie an?" -- "Den Bibelchristen. Man
stellt die Leuchte nicht unter den Scheffel, sondern steckt sie auf einen Leuchter,
auf daß sie das ganze Haus erleuchte." -- "Wenn das der Fall ist, so geben
Sie uns gefälligst Licht über den Stand der Dinge."

Der Methodist sagt nun aus, daß er die Klägerin genau kennt; sie ist
eine gewisse Mrs. Malony, eine Wittfrau in der Gnade des Herrn, eine
Schwester in Christo. Sie wohnt in Jslington hinter der Essex-Noad und ist
aus Irland gebürtig. Sie ist gewohnt, in einem Ställchen hinten in ihrem
Garten eine gewisse Anzahl Schweine zu halten. Vergangenen Freitag hat
sie die betrübende Entdeckung gemacht, daß ein Mitglied dieser borstentragenden
Familie abhanden gekommen ist. Ihr Verdacht ist sofort auf einen gewissen
William Rattan gefallen. Da Mr. Ebenezer Choate als Klassenvorstand seiner
Schwester in Christo regelmäßige Besuche abstattet, so hat er bald Kunde von
dem Diebstahl erhalten, dessen Opfer die Wittwe geworden ist. Als eifriger
Seelsorger, der sich das materielle Wohl der seiner Obhut anvertrauten ebenso
angelegen sein läßt wie ihr geistiges Gedeihen, hat er sich unverzüglich zu
William Rattan begeben. Rattan hat zuerst den Diebstahl geleugnet; nachdem
der Methodist ihn aber dreimal unter der Androhung der Strafe ewiger Ver-
dammniß aufgefordert, die Wahrheit zu gestehen, hat der Bösewicht endlich
gesagt: "Ja, 's ist wahr, ich habe das Schwein gestohlen." -- "Elender, so
stiehlst du der Wittwe das Brod vor dem Munde weg!" -- "Aber ein Schwein-
chen ist doch kein Brod." -- "Wie kann man die Dreistigkeit haben, in einem
so feierlichen Augenblicke zu scherzen? Was wirst du antworten können, wenn
du am Tage des jüngsten Gerichts der Wittwe und ihrem Schweine von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wirst? Was wirst dn sagen, wenn die
Wittwe dich anklagen wird?" -- "Das Schwein wird, sagen Sie, auch zugegen
sein?" -- "Ja wohl, um dich zu verblüffen? Was wirst du der Wittwe
erwiedern, Unglücklicher?" -- "I nun, das ist sehr einfach; ich werde zu ihr
sagen: Mutter Malony, da ist Ihr Schwein."

Es ist möglich, daß die Zeitungsberichterstatter die Geschichte ein wenig
ausgeschmückt haben; aber den Ton und die Vorstellungsweise der Sekte haben


Lippen (zum Schwur nach englischer Weise) auf die aufgeschlagene Bibel ge¬
drückt hat, wartet er mit demüthig gesenktem Haupte der Dinge, die da kommen
sollen. „Was ist Ihr Beruf?" fragt ihn der Richter. — „Ich bin eine Leuchte
des Herrn", antwortet Herr Ebenezer Choate, indem er die Augen, feucht von
Dankgefühl, zum Himmel erhebt. — „Wie sagten Sie?" erkundigt sich der
Richter, sich mit der Miene eines Mannes vorbeugend, der falsch gehört zu
haben glaubt. — „Ich bin eine Leuchte des Herrn", wiederholt der Zeuge mit
süßlich näselnder Stimme, und die Zuschauer lächeln.

„Welcher Denomination gehören Sie an?" — „Den Bibelchristen. Man
stellt die Leuchte nicht unter den Scheffel, sondern steckt sie auf einen Leuchter,
auf daß sie das ganze Haus erleuchte." — „Wenn das der Fall ist, so geben
Sie uns gefälligst Licht über den Stand der Dinge."

Der Methodist sagt nun aus, daß er die Klägerin genau kennt; sie ist
eine gewisse Mrs. Malony, eine Wittfrau in der Gnade des Herrn, eine
Schwester in Christo. Sie wohnt in Jslington hinter der Essex-Noad und ist
aus Irland gebürtig. Sie ist gewohnt, in einem Ställchen hinten in ihrem
Garten eine gewisse Anzahl Schweine zu halten. Vergangenen Freitag hat
sie die betrübende Entdeckung gemacht, daß ein Mitglied dieser borstentragenden
Familie abhanden gekommen ist. Ihr Verdacht ist sofort auf einen gewissen
William Rattan gefallen. Da Mr. Ebenezer Choate als Klassenvorstand seiner
Schwester in Christo regelmäßige Besuche abstattet, so hat er bald Kunde von
dem Diebstahl erhalten, dessen Opfer die Wittwe geworden ist. Als eifriger
Seelsorger, der sich das materielle Wohl der seiner Obhut anvertrauten ebenso
angelegen sein läßt wie ihr geistiges Gedeihen, hat er sich unverzüglich zu
William Rattan begeben. Rattan hat zuerst den Diebstahl geleugnet; nachdem
der Methodist ihn aber dreimal unter der Androhung der Strafe ewiger Ver-
dammniß aufgefordert, die Wahrheit zu gestehen, hat der Bösewicht endlich
gesagt: „Ja, 's ist wahr, ich habe das Schwein gestohlen." — „Elender, so
stiehlst du der Wittwe das Brod vor dem Munde weg!" — „Aber ein Schwein-
chen ist doch kein Brod." — „Wie kann man die Dreistigkeit haben, in einem
so feierlichen Augenblicke zu scherzen? Was wirst du antworten können, wenn
du am Tage des jüngsten Gerichts der Wittwe und ihrem Schweine von
Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen wirst? Was wirst dn sagen, wenn die
Wittwe dich anklagen wird?" — „Das Schwein wird, sagen Sie, auch zugegen
sein?" — „Ja wohl, um dich zu verblüffen? Was wirst du der Wittwe
erwiedern, Unglücklicher?" — „I nun, das ist sehr einfach; ich werde zu ihr
sagen: Mutter Malony, da ist Ihr Schwein."

Es ist möglich, daß die Zeitungsberichterstatter die Geschichte ein wenig
ausgeschmückt haben; aber den Ton und die Vorstellungsweise der Sekte haben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/154>, abgerufen am 23.11.2024.