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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal.

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Religion beruht; Unglaube und Aberglaube gründen sich auf seichte Physik und
seichte Historie."

"Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichte, Räthsel, die ihre
Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Ge¬
schichte sind nichts als Chiffern, die ihren Schlüssel verlangen."

"Worauf gründet sich alle Gelehrsamkeit? Ans fünf Sinne, die wir mit
den vernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen. Nicht nur das ganze
Waarenhaus der Vernunft, selbst die Schatzkammer des Glaubens beruht auf
diesem Stock. Unsre Gedanken sind nichts als Fragmente; unsre Vernunft ist
jenem blinden thebcinischen Wahrsager ähnlich, dem seine Tochter den Flug
der Vögel beschrieb: er prophezeihte aus ihren Nachrichten."

"Unser Wissen ist Stückwerk. Sind es nicht die bloßen Erscheinungen
der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freiheit belegen? Diese Selbst¬
liebe ist das Herz unsers Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden
gleich den Blut- und Pulsadern entspringen und zusammenlaufen. -- Warum
kann der Mensch sein eigen Selbst nicht kennen? -- Wie der Leib den Ge¬
setzen der äußeren Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der
Wirkung andrer Körper, so ist unsre Seele dem beständigen Einfluß höherer
Geister ausgesetzt: dies macht unser eigen Selbst so zweifelhaft. Die Vernunft
kann nichts als Analogien auffassen, um ein sehr undeutlich Licht zu erhalten."

"Unser Leben ist ein Dampf, und alle Freuden und Leiden desselben
scheinen aus Dünsten zu bestehn, oder of-xsurs, von denen man nicht weiß,
woher sie kommen und wo sie bleiben."

"Nichts giebt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur, als die
große Wahrheit unsers Heilands: Niemand ist gut als der ewige Gott! Statt
zu fragen: Wo kommt das Böse her? sollten wir uns vielmehr wundern, daß
endliche Geschöpfe fähig siud, gut und glücklich zu sein." --

Durch ein Schreiben von Berens wurde Hamann endlich aus seinem
Stumpfsinne aufgerüttelt. Er faßte einen Entschluß, verließ London und wurde
in Riga mit offenen Armen aufgenommen. Doch wußte er auch hier sich nicht
zu stellen und begrüßte es drei Vierteljahre später, im April 1759, als die
Erlösung aus einem unerträglich gewordenen Zustande, als sein schwer erkrankter
Vater ihn nach Hause rief.

"In dieser Verfassung," schreibt er, "kann ich nichts Ordentliches anfangen,
und werde es auch nicht. Was mir Gott jeden Tag zuschreitet, will ich thun,
wie es mir in die Hand fällt. Ich bete und arbeite wie ein Christ, wie ein
Pilgrim, wie ein Soldat zu Friedenszeiten. Meine Bestimmung ist weder zu
einem Kauf-, Staats- noch Weltmann. Ich bin nichts und kann zur Noth
allerlei sein. Bibellesen ist die Arbeit jedes Christen, wie Romane und der


Religion beruht; Unglaube und Aberglaube gründen sich auf seichte Physik und
seichte Historie."

„Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichte, Räthsel, die ihre
Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Ge¬
schichte sind nichts als Chiffern, die ihren Schlüssel verlangen."

„Worauf gründet sich alle Gelehrsamkeit? Ans fünf Sinne, die wir mit
den vernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen. Nicht nur das ganze
Waarenhaus der Vernunft, selbst die Schatzkammer des Glaubens beruht auf
diesem Stock. Unsre Gedanken sind nichts als Fragmente; unsre Vernunft ist
jenem blinden thebcinischen Wahrsager ähnlich, dem seine Tochter den Flug
der Vögel beschrieb: er prophezeihte aus ihren Nachrichten."

„Unser Wissen ist Stückwerk. Sind es nicht die bloßen Erscheinungen
der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freiheit belegen? Diese Selbst¬
liebe ist das Herz unsers Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden
gleich den Blut- und Pulsadern entspringen und zusammenlaufen. — Warum
kann der Mensch sein eigen Selbst nicht kennen? — Wie der Leib den Ge¬
setzen der äußeren Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der
Wirkung andrer Körper, so ist unsre Seele dem beständigen Einfluß höherer
Geister ausgesetzt: dies macht unser eigen Selbst so zweifelhaft. Die Vernunft
kann nichts als Analogien auffassen, um ein sehr undeutlich Licht zu erhalten."

„Unser Leben ist ein Dampf, und alle Freuden und Leiden desselben
scheinen aus Dünsten zu bestehn, oder of-xsurs, von denen man nicht weiß,
woher sie kommen und wo sie bleiben."

„Nichts giebt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur, als die
große Wahrheit unsers Heilands: Niemand ist gut als der ewige Gott! Statt
zu fragen: Wo kommt das Böse her? sollten wir uns vielmehr wundern, daß
endliche Geschöpfe fähig siud, gut und glücklich zu sein." —

Durch ein Schreiben von Berens wurde Hamann endlich aus seinem
Stumpfsinne aufgerüttelt. Er faßte einen Entschluß, verließ London und wurde
in Riga mit offenen Armen aufgenommen. Doch wußte er auch hier sich nicht
zu stellen und begrüßte es drei Vierteljahre später, im April 1759, als die
Erlösung aus einem unerträglich gewordenen Zustande, als sein schwer erkrankter
Vater ihn nach Hause rief.

„In dieser Verfassung," schreibt er, „kann ich nichts Ordentliches anfangen,
und werde es auch nicht. Was mir Gott jeden Tag zuschreitet, will ich thun,
wie es mir in die Hand fällt. Ich bete und arbeite wie ein Christ, wie ein
Pilgrim, wie ein Soldat zu Friedenszeiten. Meine Bestimmung ist weder zu
einem Kauf-, Staats- noch Weltmann. Ich bin nichts und kann zur Noth
allerlei sein. Bibellesen ist die Arbeit jedes Christen, wie Romane und der


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[0144] Religion beruht; Unglaube und Aberglaube gründen sich auf seichte Physik und seichte Historie." „Alle Erscheinungen der Natur sind Träume, Gesichte, Räthsel, die ihre Bedeutung, ihren geheimen Sinn haben. Das Buch der Natur und der Ge¬ schichte sind nichts als Chiffern, die ihren Schlüssel verlangen." „Worauf gründet sich alle Gelehrsamkeit? Ans fünf Sinne, die wir mit den vernünftigen Thieren gemeinschaftlich besitzen. Nicht nur das ganze Waarenhaus der Vernunft, selbst die Schatzkammer des Glaubens beruht auf diesem Stock. Unsre Gedanken sind nichts als Fragmente; unsre Vernunft ist jenem blinden thebcinischen Wahrsager ähnlich, dem seine Tochter den Flug der Vögel beschrieb: er prophezeihte aus ihren Nachrichten." „Unser Wissen ist Stückwerk. Sind es nicht die bloßen Erscheinungen der Selbstliebe, die wir mit dem Begriff der Freiheit belegen? Diese Selbst¬ liebe ist das Herz unsers Willens, aus dem alle Neigungen und Begierden gleich den Blut- und Pulsadern entspringen und zusammenlaufen. — Warum kann der Mensch sein eigen Selbst nicht kennen? — Wie der Leib den Ge¬ setzen der äußeren Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der Wirkung andrer Körper, so ist unsre Seele dem beständigen Einfluß höherer Geister ausgesetzt: dies macht unser eigen Selbst so zweifelhaft. Die Vernunft kann nichts als Analogien auffassen, um ein sehr undeutlich Licht zu erhalten." „Unser Leben ist ein Dampf, und alle Freuden und Leiden desselben scheinen aus Dünsten zu bestehn, oder of-xsurs, von denen man nicht weiß, woher sie kommen und wo sie bleiben." „Nichts giebt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur, als die große Wahrheit unsers Heilands: Niemand ist gut als der ewige Gott! Statt zu fragen: Wo kommt das Böse her? sollten wir uns vielmehr wundern, daß endliche Geschöpfe fähig siud, gut und glücklich zu sein." — Durch ein Schreiben von Berens wurde Hamann endlich aus seinem Stumpfsinne aufgerüttelt. Er faßte einen Entschluß, verließ London und wurde in Riga mit offenen Armen aufgenommen. Doch wußte er auch hier sich nicht zu stellen und begrüßte es drei Vierteljahre später, im April 1759, als die Erlösung aus einem unerträglich gewordenen Zustande, als sein schwer erkrankter Vater ihn nach Hause rief. „In dieser Verfassung," schreibt er, „kann ich nichts Ordentliches anfangen, und werde es auch nicht. Was mir Gott jeden Tag zuschreitet, will ich thun, wie es mir in die Hand fällt. Ich bete und arbeite wie ein Christ, wie ein Pilgrim, wie ein Soldat zu Friedenszeiten. Meine Bestimmung ist weder zu einem Kauf-, Staats- noch Weltmann. Ich bin nichts und kann zur Noth allerlei sein. Bibellesen ist die Arbeit jedes Christen, wie Romane und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157673/144>, abgerufen am 24.11.2024.