Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

daß der Mord die Freiheit gebracht hätte, war das Gegentheil die Folge: Aus
der volksfreundlichen und vielfach segensreichen Regierung der Peisistratiden
wurde eine unerträgliche Zwingherrschaft voll Blut- und Geldgier, die noch
ganze vierthalb Jahre auf der Stadt und ihren Bürgern lastete.

Verschiedene Berichte Herodot's, z. B. die über Astyciges, Kyros und Kroisvs,
fallen unzweifelhaft wenigstens zum Theil in die Kategorie des Mythus. Noch
sicherer läßt sich dies behaupten von gewissen Erzählungen aus dem frühen und
späten Mittelalter, in denen man ehemals wirkliche geschichtliche Vorgänge oder
doch Spuren der Reste von solchen erkennen wollte. Noch heute wird am Rheine
der Berg gezeigt, wo Siegfried den Drachen erschlagen, und im Odenwalde der
Quell, wo Hagen's Speer ihn durchbohrt haben soll. Aber Siegfried hat nie gelebt,
als in der Mythe und der Poesie, er war ursprünglich eine Personifikation der
Sonne -- wie der hebräische Simson --, dann ein Held der altgermanischen
Wauderdichter; und ebenso wenig wie er haben die meisten der gigantischen
Männer- und Fxauengestalten des Epos, das seinen Tod und Chrimbild's
Rache besingt, und die Schicksale dieser grimmen Recken etwas mit der Ge¬
schichte zu schaffen. Dietrich von Bern, der Ostgothenkönig Theodorich, und
Etzel, der Großchan der Hunnen Attila, figuriren im Nibelungenliede nur mit
ihrem Namen, nicht mit ihrem Wesen und ihren Thaten.

Wir haben aber noch viel auffallendere Beispiele ungeschichtlicher Personen
und Dinge anzuführen, die vor nicht langer Zeit noch allgemein für geschicht¬
lich galten. Noch heute wird es wahrscheinlich Leute geben, die über die Er¬
oberung Britannien's durch die Angelsachsen wohl unterrichtet zu sein glauben.
Die einen werden uns die von den meisten Geschichtschreibern adoptirte angel¬
sächsische Ueberlieferung erzählen, andere vielleicht die etwas romantischer klin¬
gende britische Tradition. In beiden liegen Namen, Oertlichkeiten, Jahres¬
zahlen, Ereignisse vollkommen klar und bestimmt vor, so daß es scheint, als
ob kaum daran zu zweifeln sei. Und doch hat Lappenberg schon vor 40 Jahren
mit zwingenden Gründen den Beweis geführt, daß nichts von allen diesen
Einzelheiten begründet, daß Alles Sage und Mythe und nicht einmal die
Existenz der Brüder Hengist und Horsa nachzuweisen sei.

Karl der Große gehört allerdings der Geschichte an, aber in vielen seiner
Züge zugleich der Sage, und ältere Geschichtschreiber schieden die letztere nicht
aus. Was man von seiner Tafelrunde zu wissen glaubte, fiel mit der Er¬
kenntniß, daß die Erzählungen des Erzbischofs Turpin, seines Zeitgenossen,
von den Thaten seiner Paladine ein Machwerk aus den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters war. Die Geschichte von seiner Tochter Emma, die des
Nachts ihren Geliebten Eginhcird auf ihrem Rücken über den Hof der kaiser¬
lichen Pfalz getragen haben sollte, damit dessen Fußtapfen in dem frischge-


daß der Mord die Freiheit gebracht hätte, war das Gegentheil die Folge: Aus
der volksfreundlichen und vielfach segensreichen Regierung der Peisistratiden
wurde eine unerträgliche Zwingherrschaft voll Blut- und Geldgier, die noch
ganze vierthalb Jahre auf der Stadt und ihren Bürgern lastete.

Verschiedene Berichte Herodot's, z. B. die über Astyciges, Kyros und Kroisvs,
fallen unzweifelhaft wenigstens zum Theil in die Kategorie des Mythus. Noch
sicherer läßt sich dies behaupten von gewissen Erzählungen aus dem frühen und
späten Mittelalter, in denen man ehemals wirkliche geschichtliche Vorgänge oder
doch Spuren der Reste von solchen erkennen wollte. Noch heute wird am Rheine
der Berg gezeigt, wo Siegfried den Drachen erschlagen, und im Odenwalde der
Quell, wo Hagen's Speer ihn durchbohrt haben soll. Aber Siegfried hat nie gelebt,
als in der Mythe und der Poesie, er war ursprünglich eine Personifikation der
Sonne — wie der hebräische Simson —, dann ein Held der altgermanischen
Wauderdichter; und ebenso wenig wie er haben die meisten der gigantischen
Männer- und Fxauengestalten des Epos, das seinen Tod und Chrimbild's
Rache besingt, und die Schicksale dieser grimmen Recken etwas mit der Ge¬
schichte zu schaffen. Dietrich von Bern, der Ostgothenkönig Theodorich, und
Etzel, der Großchan der Hunnen Attila, figuriren im Nibelungenliede nur mit
ihrem Namen, nicht mit ihrem Wesen und ihren Thaten.

Wir haben aber noch viel auffallendere Beispiele ungeschichtlicher Personen
und Dinge anzuführen, die vor nicht langer Zeit noch allgemein für geschicht¬
lich galten. Noch heute wird es wahrscheinlich Leute geben, die über die Er¬
oberung Britannien's durch die Angelsachsen wohl unterrichtet zu sein glauben.
Die einen werden uns die von den meisten Geschichtschreibern adoptirte angel¬
sächsische Ueberlieferung erzählen, andere vielleicht die etwas romantischer klin¬
gende britische Tradition. In beiden liegen Namen, Oertlichkeiten, Jahres¬
zahlen, Ereignisse vollkommen klar und bestimmt vor, so daß es scheint, als
ob kaum daran zu zweifeln sei. Und doch hat Lappenberg schon vor 40 Jahren
mit zwingenden Gründen den Beweis geführt, daß nichts von allen diesen
Einzelheiten begründet, daß Alles Sage und Mythe und nicht einmal die
Existenz der Brüder Hengist und Horsa nachzuweisen sei.

Karl der Große gehört allerdings der Geschichte an, aber in vielen seiner
Züge zugleich der Sage, und ältere Geschichtschreiber schieden die letztere nicht
aus. Was man von seiner Tafelrunde zu wissen glaubte, fiel mit der Er¬
kenntniß, daß die Erzählungen des Erzbischofs Turpin, seines Zeitgenossen,
von den Thaten seiner Paladine ein Machwerk aus den letzten Jahrhunderten
des Mittelalters war. Die Geschichte von seiner Tochter Emma, die des
Nachts ihren Geliebten Eginhcird auf ihrem Rücken über den Hof der kaiser¬
lichen Pfalz getragen haben sollte, damit dessen Fußtapfen in dem frischge-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0076" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142031"/>
          <p xml:id="ID_235" prev="#ID_234"> daß der Mord die Freiheit gebracht hätte, war das Gegentheil die Folge: Aus<lb/>
der volksfreundlichen und vielfach segensreichen Regierung der Peisistratiden<lb/>
wurde eine unerträgliche Zwingherrschaft voll Blut- und Geldgier, die noch<lb/>
ganze vierthalb Jahre auf der Stadt und ihren Bürgern lastete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_236"> Verschiedene Berichte Herodot's, z. B. die über Astyciges, Kyros und Kroisvs,<lb/>
fallen unzweifelhaft wenigstens zum Theil in die Kategorie des Mythus. Noch<lb/>
sicherer läßt sich dies behaupten von gewissen Erzählungen aus dem frühen und<lb/>
späten Mittelalter, in denen man ehemals wirkliche geschichtliche Vorgänge oder<lb/>
doch Spuren der Reste von solchen erkennen wollte. Noch heute wird am Rheine<lb/>
der Berg gezeigt, wo Siegfried den Drachen erschlagen, und im Odenwalde der<lb/>
Quell, wo Hagen's Speer ihn durchbohrt haben soll. Aber Siegfried hat nie gelebt,<lb/>
als in der Mythe und der Poesie, er war ursprünglich eine Personifikation der<lb/>
Sonne &#x2014; wie der hebräische Simson &#x2014;, dann ein Held der altgermanischen<lb/>
Wauderdichter; und ebenso wenig wie er haben die meisten der gigantischen<lb/>
Männer- und Fxauengestalten des Epos, das seinen Tod und Chrimbild's<lb/>
Rache besingt, und die Schicksale dieser grimmen Recken etwas mit der Ge¬<lb/>
schichte zu schaffen. Dietrich von Bern, der Ostgothenkönig Theodorich, und<lb/>
Etzel, der Großchan der Hunnen Attila, figuriren im Nibelungenliede nur mit<lb/>
ihrem Namen, nicht mit ihrem Wesen und ihren Thaten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_237"> Wir haben aber noch viel auffallendere Beispiele ungeschichtlicher Personen<lb/>
und Dinge anzuführen, die vor nicht langer Zeit noch allgemein für geschicht¬<lb/>
lich galten. Noch heute wird es wahrscheinlich Leute geben, die über die Er¬<lb/>
oberung Britannien's durch die Angelsachsen wohl unterrichtet zu sein glauben.<lb/>
Die einen werden uns die von den meisten Geschichtschreibern adoptirte angel¬<lb/>
sächsische Ueberlieferung erzählen, andere vielleicht die etwas romantischer klin¬<lb/>
gende britische Tradition. In beiden liegen Namen, Oertlichkeiten, Jahres¬<lb/>
zahlen, Ereignisse vollkommen klar und bestimmt vor, so daß es scheint, als<lb/>
ob kaum daran zu zweifeln sei. Und doch hat Lappenberg schon vor 40 Jahren<lb/>
mit zwingenden Gründen den Beweis geführt, daß nichts von allen diesen<lb/>
Einzelheiten begründet, daß Alles Sage und Mythe und nicht einmal die<lb/>
Existenz der Brüder Hengist und Horsa nachzuweisen sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_238" next="#ID_239"> Karl der Große gehört allerdings der Geschichte an, aber in vielen seiner<lb/>
Züge zugleich der Sage, und ältere Geschichtschreiber schieden die letztere nicht<lb/>
aus. Was man von seiner Tafelrunde zu wissen glaubte, fiel mit der Er¬<lb/>
kenntniß, daß die Erzählungen des Erzbischofs Turpin, seines Zeitgenossen,<lb/>
von den Thaten seiner Paladine ein Machwerk aus den letzten Jahrhunderten<lb/>
des Mittelalters war. Die Geschichte von seiner Tochter Emma, die des<lb/>
Nachts ihren Geliebten Eginhcird auf ihrem Rücken über den Hof der kaiser¬<lb/>
lichen Pfalz getragen haben sollte, damit dessen Fußtapfen in dem frischge-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0076] daß der Mord die Freiheit gebracht hätte, war das Gegentheil die Folge: Aus der volksfreundlichen und vielfach segensreichen Regierung der Peisistratiden wurde eine unerträgliche Zwingherrschaft voll Blut- und Geldgier, die noch ganze vierthalb Jahre auf der Stadt und ihren Bürgern lastete. Verschiedene Berichte Herodot's, z. B. die über Astyciges, Kyros und Kroisvs, fallen unzweifelhaft wenigstens zum Theil in die Kategorie des Mythus. Noch sicherer läßt sich dies behaupten von gewissen Erzählungen aus dem frühen und späten Mittelalter, in denen man ehemals wirkliche geschichtliche Vorgänge oder doch Spuren der Reste von solchen erkennen wollte. Noch heute wird am Rheine der Berg gezeigt, wo Siegfried den Drachen erschlagen, und im Odenwalde der Quell, wo Hagen's Speer ihn durchbohrt haben soll. Aber Siegfried hat nie gelebt, als in der Mythe und der Poesie, er war ursprünglich eine Personifikation der Sonne — wie der hebräische Simson —, dann ein Held der altgermanischen Wauderdichter; und ebenso wenig wie er haben die meisten der gigantischen Männer- und Fxauengestalten des Epos, das seinen Tod und Chrimbild's Rache besingt, und die Schicksale dieser grimmen Recken etwas mit der Ge¬ schichte zu schaffen. Dietrich von Bern, der Ostgothenkönig Theodorich, und Etzel, der Großchan der Hunnen Attila, figuriren im Nibelungenliede nur mit ihrem Namen, nicht mit ihrem Wesen und ihren Thaten. Wir haben aber noch viel auffallendere Beispiele ungeschichtlicher Personen und Dinge anzuführen, die vor nicht langer Zeit noch allgemein für geschicht¬ lich galten. Noch heute wird es wahrscheinlich Leute geben, die über die Er¬ oberung Britannien's durch die Angelsachsen wohl unterrichtet zu sein glauben. Die einen werden uns die von den meisten Geschichtschreibern adoptirte angel¬ sächsische Ueberlieferung erzählen, andere vielleicht die etwas romantischer klin¬ gende britische Tradition. In beiden liegen Namen, Oertlichkeiten, Jahres¬ zahlen, Ereignisse vollkommen klar und bestimmt vor, so daß es scheint, als ob kaum daran zu zweifeln sei. Und doch hat Lappenberg schon vor 40 Jahren mit zwingenden Gründen den Beweis geführt, daß nichts von allen diesen Einzelheiten begründet, daß Alles Sage und Mythe und nicht einmal die Existenz der Brüder Hengist und Horsa nachzuweisen sei. Karl der Große gehört allerdings der Geschichte an, aber in vielen seiner Züge zugleich der Sage, und ältere Geschichtschreiber schieden die letztere nicht aus. Was man von seiner Tafelrunde zu wissen glaubte, fiel mit der Er¬ kenntniß, daß die Erzählungen des Erzbischofs Turpin, seines Zeitgenossen, von den Thaten seiner Paladine ein Machwerk aus den letzten Jahrhunderten des Mittelalters war. Die Geschichte von seiner Tochter Emma, die des Nachts ihren Geliebten Eginhcird auf ihrem Rücken über den Hof der kaiser¬ lichen Pfalz getragen haben sollte, damit dessen Fußtapfen in dem frischge-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/76
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/76>, abgerufen am 27.09.2024.