Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.einfache, neu erkannten oder neu entstandenen Bedürfnissen angepaßt werden einfache, neu erkannten oder neu entstandenen Bedürfnissen angepaßt werden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0070" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142025"/> <p xml:id="ID_217" prev="#ID_216" next="#ID_218"> einfache, neu erkannten oder neu entstandenen Bedürfnissen angepaßt werden<lb/> muß, ist völlig selbstverständlich. Es handelt sich um den ersten Schritt auf<lb/> den richtigen Weg, während die Kritiker verlangen, man solle sogleich den<lb/> letzten Schritt thun. Damit ist die Kritik gerichtet, aber nicht die Arbeit der<lb/> Tarifkommission. Andere Kritiker machen es der Kommission zum Vorwurf,<lb/> daß sie keine Berechnung aufgestellt hat, was die neuen Zollsätze für Erträge<lb/> liefern werden. Ja, wer so klug wäre, das zu wissen! Die Klugen verlangen<lb/> wieder einmal das Unmögliche. Man soll doch nur nie vergessen, daß es der<lb/> praktischen Staatskunst niemals vergönnt ist, Maßregeln nach einem unfehl¬<lb/> baren Prinzip zu konstruiren und die Wirkungen nach diesem Prinzip zu be¬<lb/> rechnen. So zu verfahren versucht der Mechaniker; und wenn er zehnmal nach<lb/> dem wissenschaftlich richtigsten Prinzip verfährt, so kommt der praktische Erfolg<lb/> doch erst nach hundertfachen Versuchen — wenn er kommt. Der Mechaniker<lb/> kann ein richtiges Prinzip haben; das Zusammenwirken seiner Mittel muß er<lb/> erst erproben, weil er nicht von allen Mitteln die erschöpfende Kenntniß haben<lb/> kann. So ergeht es dem Mechaniker, und doch ist seine Aufgabe wie ein<lb/> Kinderspiel gegen die des Staatskünstlers, der mit den lebendigsten, zusammen¬<lb/> gesetztesten und veränderlichsten Elementen zu thun hat. Und doch muß es<lb/> eine Staatskunst geben; ohne sie zerfallen und versinken die Völker. Während<lb/> langer Zeiträume braucht sie nur in Tradition zu bestehen; wenn aber die<lb/> Vorsehung haben will, daß ein Volk bestehe und wachse, so schenkt sie ihm<lb/> einen Künstler, von dessen Vorbild die traditionelle Praxis durch Jahrhun-<lb/> derte zehren mag. Das staatlich zerrissene Deutschland konnte eine nationale<lb/> Zollpolitik nicht haben, es konnte nicht daran denken, ein System der Zölle<lb/> zu erstreben, welches das harmonische Emporblühen der einheimischen Er¬<lb/> werbsthätigkeit bezweckt. Ein solches System kann nur von einem politischen<lb/> Zentralpunkt ausgehen, und es kann nicht durch eine noch so lange sitzende<lb/> Kommission in vollkommener Gestalt gefunden, es kann nur durch eine in<lb/> ihrer Bewegung möglichst unbehinderte Zentralgewalt experimentirend nach und<lb/> nach hergestellt werden. Man kreuzige und segnet sich freilich, daß an dem<lb/> lebendigen Körper der Volkswirthschaft fort und fort experimentirt werden solle.<lb/> Aber man hat nur dann das Recht sich zu bekreuzigen, wenn man sich von<lb/> der Sache die absurdesten Vorstellungen macht. Wenn das Rezept einer guten<lb/> Speise, in den Grundbestandtheilen unverändert, bei täglicher Bereitung eine<lb/> Zeitlang täglich sich vervollkommnet, so wird der Magen der Genießenden nicht<lb/> zu Tode experimentirt. Genau so ist es jetzt mit dem Rezepte für die deutsche<lb/> Volkswirthschaft. Der es verordnet, weiß, was er will und wie er es will.<lb/> Dem Kranken ist es besser, nach einem unvollkommenen Rezept bedient zu<lb/> werden, als nach einem schädlichen, und die Besserung des Kranken wird</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0070]
einfache, neu erkannten oder neu entstandenen Bedürfnissen angepaßt werden
muß, ist völlig selbstverständlich. Es handelt sich um den ersten Schritt auf
den richtigen Weg, während die Kritiker verlangen, man solle sogleich den
letzten Schritt thun. Damit ist die Kritik gerichtet, aber nicht die Arbeit der
Tarifkommission. Andere Kritiker machen es der Kommission zum Vorwurf,
daß sie keine Berechnung aufgestellt hat, was die neuen Zollsätze für Erträge
liefern werden. Ja, wer so klug wäre, das zu wissen! Die Klugen verlangen
wieder einmal das Unmögliche. Man soll doch nur nie vergessen, daß es der
praktischen Staatskunst niemals vergönnt ist, Maßregeln nach einem unfehl¬
baren Prinzip zu konstruiren und die Wirkungen nach diesem Prinzip zu be¬
rechnen. So zu verfahren versucht der Mechaniker; und wenn er zehnmal nach
dem wissenschaftlich richtigsten Prinzip verfährt, so kommt der praktische Erfolg
doch erst nach hundertfachen Versuchen — wenn er kommt. Der Mechaniker
kann ein richtiges Prinzip haben; das Zusammenwirken seiner Mittel muß er
erst erproben, weil er nicht von allen Mitteln die erschöpfende Kenntniß haben
kann. So ergeht es dem Mechaniker, und doch ist seine Aufgabe wie ein
Kinderspiel gegen die des Staatskünstlers, der mit den lebendigsten, zusammen¬
gesetztesten und veränderlichsten Elementen zu thun hat. Und doch muß es
eine Staatskunst geben; ohne sie zerfallen und versinken die Völker. Während
langer Zeiträume braucht sie nur in Tradition zu bestehen; wenn aber die
Vorsehung haben will, daß ein Volk bestehe und wachse, so schenkt sie ihm
einen Künstler, von dessen Vorbild die traditionelle Praxis durch Jahrhun-
derte zehren mag. Das staatlich zerrissene Deutschland konnte eine nationale
Zollpolitik nicht haben, es konnte nicht daran denken, ein System der Zölle
zu erstreben, welches das harmonische Emporblühen der einheimischen Er¬
werbsthätigkeit bezweckt. Ein solches System kann nur von einem politischen
Zentralpunkt ausgehen, und es kann nicht durch eine noch so lange sitzende
Kommission in vollkommener Gestalt gefunden, es kann nur durch eine in
ihrer Bewegung möglichst unbehinderte Zentralgewalt experimentirend nach und
nach hergestellt werden. Man kreuzige und segnet sich freilich, daß an dem
lebendigen Körper der Volkswirthschaft fort und fort experimentirt werden solle.
Aber man hat nur dann das Recht sich zu bekreuzigen, wenn man sich von
der Sache die absurdesten Vorstellungen macht. Wenn das Rezept einer guten
Speise, in den Grundbestandtheilen unverändert, bei täglicher Bereitung eine
Zeitlang täglich sich vervollkommnet, so wird der Magen der Genießenden nicht
zu Tode experimentirt. Genau so ist es jetzt mit dem Rezepte für die deutsche
Volkswirthschaft. Der es verordnet, weiß, was er will und wie er es will.
Dem Kranken ist es besser, nach einem unvollkommenen Rezept bedient zu
werden, als nach einem schädlichen, und die Besserung des Kranken wird
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