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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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gesunde Reform des Strafvollzugs gehindert hat. In England beginnt eine
planmäßige Reform desselben erst, seitdem die Deportation auf den Aussterbe¬
etat gesetzt ist. Und wer die Bestrebungen für diese Reform in Frankreich
unter Tocqueville's Führung von 1830 bis 1847 verfolgt hat, wird wissen,
daß der Abschluß des Strafvollzugsgesetzes, welches ans dem System der Einzel¬
haft basirte, wesentlich mit dadurch verhindert wurde, daß die Deputirten-
kammer die Deportation hineindiskutirt hatte, und daß vom Kaiserreiche, welches
eine ganz besondere Passion für die Deportation hatte, die ganze Strafvoll¬
zugsreform bei Seite gelegt wurde. Erst unter der Republik ist sie wieder
aufgenommen und zu einem vorläufigen Abschlüsse gebracht worden, aus
welchem klar hervorgeht, daß im französischen Strafvollzuge die Deportation
keinen Platz mehr haben wird. Holland, Belgien, Schweden haben ihre plan¬
mäßige Gefängnißreform erst begonnen, nachdem sie ein für allemal aller
Deportations-Gelüste sich entschlagen hatten. Rußland hat mit seiner sibirischen
Deportation Bankerott gemacht, es hat soeben durch Schaffung einer Zentral¬
behörde für das Gefängnißwesen, an dessen Spitze der hochverdiente Präsident
des Stockholmer Kongresses Staatsrath v. Grod steht, die Reform des Straf¬
vollzugs in Angriff genommen, und daß es ihm damit Ernst ist, dafür bürgt
der Name und die Person des Chefs und seiner Mitarbeiter; Beseitigung der
Deportation ist die oonckitio sins Hiia. non der Reform. Und uns Deutschen
will man zumuthen, diesen überall mißglückter Versuch noch einmal zu machen?
Einmal schon haben wir in Preußen den Anlauf zu einer Reform des Straf¬
vollzugs genommen, wir standen um dieselbe Zeit fast so nahe am Ziele wie
die Franzosen. Man hat sie fallen lassen. Warum? Kundige Leute behaupten,
unter anderm aus dem Grunde, weil eine kirchliche Partei, der Fabri nicht
fern steht, den Strafvollzug in Einzelhaft zu seiner Domäne machen wollte.
Sicher hat das Anwachsen des Verbrecherthums zum großen Theil seinen
Grund in dieser unterlassener Reform des Strafvollzugs. Jetzt endlich sind
wir soweit gekommen, daß dem Bundesrathe der Entwurf zu einem Reichs-
Strafvollzugsgesetz vorliegt, der die Gefängnißreform nach dem System der
Einzelhaft in Aussicht nimmt, und da kommt diese unglückselige Deportations¬
frage! Es ist sicher zu erwarten, daß gewisse Parlamentarier, die alles wissen,
die jeden Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit mit sittlicher Entrüstung zurück¬
weisen, bei der Berathung des Strafvollzugsgesetzes auch die Deportation in
die Diskussion werfen und dadurch fein Zustandekommen ebenso gefährden
werden, wie die französische Deputirtenkammer den Strafsvollzugs-Gesetzentwurf
vom Jahre 1846. Die Gefängnißreform ist eine Aufgabe, die nur durch plan¬
mäßige, konsequente, langjährige, mühsame Arbeit gelöst werden kann. Belgien
hat 30 Jahre daran gearbeitet, Schweden und Holland nicht viel kürzer, England


gesunde Reform des Strafvollzugs gehindert hat. In England beginnt eine
planmäßige Reform desselben erst, seitdem die Deportation auf den Aussterbe¬
etat gesetzt ist. Und wer die Bestrebungen für diese Reform in Frankreich
unter Tocqueville's Führung von 1830 bis 1847 verfolgt hat, wird wissen,
daß der Abschluß des Strafvollzugsgesetzes, welches ans dem System der Einzel¬
haft basirte, wesentlich mit dadurch verhindert wurde, daß die Deputirten-
kammer die Deportation hineindiskutirt hatte, und daß vom Kaiserreiche, welches
eine ganz besondere Passion für die Deportation hatte, die ganze Strafvoll¬
zugsreform bei Seite gelegt wurde. Erst unter der Republik ist sie wieder
aufgenommen und zu einem vorläufigen Abschlüsse gebracht worden, aus
welchem klar hervorgeht, daß im französischen Strafvollzuge die Deportation
keinen Platz mehr haben wird. Holland, Belgien, Schweden haben ihre plan¬
mäßige Gefängnißreform erst begonnen, nachdem sie ein für allemal aller
Deportations-Gelüste sich entschlagen hatten. Rußland hat mit seiner sibirischen
Deportation Bankerott gemacht, es hat soeben durch Schaffung einer Zentral¬
behörde für das Gefängnißwesen, an dessen Spitze der hochverdiente Präsident
des Stockholmer Kongresses Staatsrath v. Grod steht, die Reform des Straf¬
vollzugs in Angriff genommen, und daß es ihm damit Ernst ist, dafür bürgt
der Name und die Person des Chefs und seiner Mitarbeiter; Beseitigung der
Deportation ist die oonckitio sins Hiia. non der Reform. Und uns Deutschen
will man zumuthen, diesen überall mißglückter Versuch noch einmal zu machen?
Einmal schon haben wir in Preußen den Anlauf zu einer Reform des Straf¬
vollzugs genommen, wir standen um dieselbe Zeit fast so nahe am Ziele wie
die Franzosen. Man hat sie fallen lassen. Warum? Kundige Leute behaupten,
unter anderm aus dem Grunde, weil eine kirchliche Partei, der Fabri nicht
fern steht, den Strafvollzug in Einzelhaft zu seiner Domäne machen wollte.
Sicher hat das Anwachsen des Verbrecherthums zum großen Theil seinen
Grund in dieser unterlassener Reform des Strafvollzugs. Jetzt endlich sind
wir soweit gekommen, daß dem Bundesrathe der Entwurf zu einem Reichs-
Strafvollzugsgesetz vorliegt, der die Gefängnißreform nach dem System der
Einzelhaft in Aussicht nimmt, und da kommt diese unglückselige Deportations¬
frage! Es ist sicher zu erwarten, daß gewisse Parlamentarier, die alles wissen,
die jeden Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit mit sittlicher Entrüstung zurück¬
weisen, bei der Berathung des Strafvollzugsgesetzes auch die Deportation in
die Diskussion werfen und dadurch fein Zustandekommen ebenso gefährden
werden, wie die französische Deputirtenkammer den Strafsvollzugs-Gesetzentwurf
vom Jahre 1846. Die Gefängnißreform ist eine Aufgabe, die nur durch plan¬
mäßige, konsequente, langjährige, mühsame Arbeit gelöst werden kann. Belgien
hat 30 Jahre daran gearbeitet, Schweden und Holland nicht viel kürzer, England


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[0514] gesunde Reform des Strafvollzugs gehindert hat. In England beginnt eine planmäßige Reform desselben erst, seitdem die Deportation auf den Aussterbe¬ etat gesetzt ist. Und wer die Bestrebungen für diese Reform in Frankreich unter Tocqueville's Führung von 1830 bis 1847 verfolgt hat, wird wissen, daß der Abschluß des Strafvollzugsgesetzes, welches ans dem System der Einzel¬ haft basirte, wesentlich mit dadurch verhindert wurde, daß die Deputirten- kammer die Deportation hineindiskutirt hatte, und daß vom Kaiserreiche, welches eine ganz besondere Passion für die Deportation hatte, die ganze Strafvoll¬ zugsreform bei Seite gelegt wurde. Erst unter der Republik ist sie wieder aufgenommen und zu einem vorläufigen Abschlüsse gebracht worden, aus welchem klar hervorgeht, daß im französischen Strafvollzuge die Deportation keinen Platz mehr haben wird. Holland, Belgien, Schweden haben ihre plan¬ mäßige Gefängnißreform erst begonnen, nachdem sie ein für allemal aller Deportations-Gelüste sich entschlagen hatten. Rußland hat mit seiner sibirischen Deportation Bankerott gemacht, es hat soeben durch Schaffung einer Zentral¬ behörde für das Gefängnißwesen, an dessen Spitze der hochverdiente Präsident des Stockholmer Kongresses Staatsrath v. Grod steht, die Reform des Straf¬ vollzugs in Angriff genommen, und daß es ihm damit Ernst ist, dafür bürgt der Name und die Person des Chefs und seiner Mitarbeiter; Beseitigung der Deportation ist die oonckitio sins Hiia. non der Reform. Und uns Deutschen will man zumuthen, diesen überall mißglückter Versuch noch einmal zu machen? Einmal schon haben wir in Preußen den Anlauf zu einer Reform des Straf¬ vollzugs genommen, wir standen um dieselbe Zeit fast so nahe am Ziele wie die Franzosen. Man hat sie fallen lassen. Warum? Kundige Leute behaupten, unter anderm aus dem Grunde, weil eine kirchliche Partei, der Fabri nicht fern steht, den Strafvollzug in Einzelhaft zu seiner Domäne machen wollte. Sicher hat das Anwachsen des Verbrecherthums zum großen Theil seinen Grund in dieser unterlassener Reform des Strafvollzugs. Jetzt endlich sind wir soweit gekommen, daß dem Bundesrathe der Entwurf zu einem Reichs- Strafvollzugsgesetz vorliegt, der die Gefängnißreform nach dem System der Einzelhaft in Aussicht nimmt, und da kommt diese unglückselige Deportations¬ frage! Es ist sicher zu erwarten, daß gewisse Parlamentarier, die alles wissen, die jeden Zweifel an ihrer Unfehlbarkeit mit sittlicher Entrüstung zurück¬ weisen, bei der Berathung des Strafvollzugsgesetzes auch die Deportation in die Diskussion werfen und dadurch fein Zustandekommen ebenso gefährden werden, wie die französische Deputirtenkammer den Strafsvollzugs-Gesetzentwurf vom Jahre 1846. Die Gefängnißreform ist eine Aufgabe, die nur durch plan¬ mäßige, konsequente, langjährige, mühsame Arbeit gelöst werden kann. Belgien hat 30 Jahre daran gearbeitet, Schweden und Holland nicht viel kürzer, England

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/514>, abgerufen am 18.06.2024.