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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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haltend, offen mit dem Radikalismus brach und in diesem Falle nicht gestattete,
daß ein einzelner Wahlbezirk seinen Willen über die Verfassung hinaus zur
Geltung brachte. Sie konnte Blanqui, der nur noch lächerlich, nicht mehr
gefährlich war, begnadigen, mußte aber vorher von den Kammern verlangen,
daß sie seine Wahl als einen Unfug annullirteu. Sie selbst konnte dies
eigenthümlicher Weise nicht thun. Die Verfassung enthält nnter anderen
Erinnerungen daran, daß sie ein Werk der Ueberhastung und Oberflächlichkeit
ist, eine Bestimmung, welche das nicht erlaubt. Der zehnte Artikel derselben
besagt, daß jede der beiden Kammern das Recht besitzen soll, über die Wähl¬
barkeit ihrer Mitglieder zu entscheiden. Also durch ein Gesetz war die Wähl¬
barkeit Blanqui's ausgeschlossen, aber ein Artikel der Verfassung gestattete der
Deputirtenkcimmer allein, ohne Mitwirkung des Senats und der Regierung,
denselben für gewählt zu erklären und ihn zu ihren Sitzungen zuzulassen.
Ein sonderbarer Widerspruch. Um so mehr aber mußte,, da der Sinn des
Gesetzes klar vorlag, das Kabinet auf schleunigen Austrag der Angelegenheit
bestehen, und seine Ehre erheischte, daß es seine Existenz an eine befriedigende
Lösung der Frage knüpfte.

Dies geschah denn auch, nachdem die Kammern aus den Ferien zurück¬
gekehrt waren. Die Sache durchlief dabei ein doppeltes Stadium. Zunächst
galt es, zu entscheiden, ob das Abgeordnetenhaus eine Wahl bestätigen werde,
die mit vollem Rechte als eine Verhöhnung der bestehenden Regierung oder,
wie Cassagnac sich in seiner bekannten geschmackvollen und höflichen Weise
auszudrücken beliebte, als eine "Maulschelle auf die linke Wange der Republik"
aufgefaßt wurde, und über die alle Geguer der jetzigen Staatsordnung, die
Reaktionäre wie die Revolutionäre, gleich viel Vergnügen empfanden. Hier
war das Endergebniß nicht zweifelhaft. Es verstand sich von selbst, daß,
als am 3. Juni die Blanqui'sche Angelegenheit auf die Tagesordnung der
Deputirtenkammer kam, der Ausschuß die Wahl desselben für ungiltig zu er¬
klären beantragte, weil der Gewählte sich nicht im Besitze der staatsbürgerlichen
Rechte befunden, und daß dieser Antrag trotz einer langen gegen den Antrag
gerichteten Rede Clemenceau's mit großer Majorität (372 gegen 33 Stimmen)
angenommen wurde.

Zweitens blieb zu entscheiden, ob die Regierung es den Wählern von
Bordeaux ermöglichen sollte, Blanqni abermals und diesmal rechtsgiltig zu
wählen. Vom Gebiete der Gesetzlichkeit trat die Sache damit in das der
Politik hinüber. Das Ministerium blieb hier in der Hauptsache fest. Indem
es sich seiner Befugniß bediente, dem Präsidenten die Anwendung des Amnestie¬
gesetzes auf die einzelnen Personen nach Gutdünken zu empfehlen, lehnte es die
Zumuthung ab, Blanqui der Amnestie theilhaftig zu machen. Er soll aus der


haltend, offen mit dem Radikalismus brach und in diesem Falle nicht gestattete,
daß ein einzelner Wahlbezirk seinen Willen über die Verfassung hinaus zur
Geltung brachte. Sie konnte Blanqui, der nur noch lächerlich, nicht mehr
gefährlich war, begnadigen, mußte aber vorher von den Kammern verlangen,
daß sie seine Wahl als einen Unfug annullirteu. Sie selbst konnte dies
eigenthümlicher Weise nicht thun. Die Verfassung enthält nnter anderen
Erinnerungen daran, daß sie ein Werk der Ueberhastung und Oberflächlichkeit
ist, eine Bestimmung, welche das nicht erlaubt. Der zehnte Artikel derselben
besagt, daß jede der beiden Kammern das Recht besitzen soll, über die Wähl¬
barkeit ihrer Mitglieder zu entscheiden. Also durch ein Gesetz war die Wähl¬
barkeit Blanqui's ausgeschlossen, aber ein Artikel der Verfassung gestattete der
Deputirtenkcimmer allein, ohne Mitwirkung des Senats und der Regierung,
denselben für gewählt zu erklären und ihn zu ihren Sitzungen zuzulassen.
Ein sonderbarer Widerspruch. Um so mehr aber mußte,, da der Sinn des
Gesetzes klar vorlag, das Kabinet auf schleunigen Austrag der Angelegenheit
bestehen, und seine Ehre erheischte, daß es seine Existenz an eine befriedigende
Lösung der Frage knüpfte.

Dies geschah denn auch, nachdem die Kammern aus den Ferien zurück¬
gekehrt waren. Die Sache durchlief dabei ein doppeltes Stadium. Zunächst
galt es, zu entscheiden, ob das Abgeordnetenhaus eine Wahl bestätigen werde,
die mit vollem Rechte als eine Verhöhnung der bestehenden Regierung oder,
wie Cassagnac sich in seiner bekannten geschmackvollen und höflichen Weise
auszudrücken beliebte, als eine „Maulschelle auf die linke Wange der Republik"
aufgefaßt wurde, und über die alle Geguer der jetzigen Staatsordnung, die
Reaktionäre wie die Revolutionäre, gleich viel Vergnügen empfanden. Hier
war das Endergebniß nicht zweifelhaft. Es verstand sich von selbst, daß,
als am 3. Juni die Blanqui'sche Angelegenheit auf die Tagesordnung der
Deputirtenkammer kam, der Ausschuß die Wahl desselben für ungiltig zu er¬
klären beantragte, weil der Gewählte sich nicht im Besitze der staatsbürgerlichen
Rechte befunden, und daß dieser Antrag trotz einer langen gegen den Antrag
gerichteten Rede Clemenceau's mit großer Majorität (372 gegen 33 Stimmen)
angenommen wurde.

Zweitens blieb zu entscheiden, ob die Regierung es den Wählern von
Bordeaux ermöglichen sollte, Blanqni abermals und diesmal rechtsgiltig zu
wählen. Vom Gebiete der Gesetzlichkeit trat die Sache damit in das der
Politik hinüber. Das Ministerium blieb hier in der Hauptsache fest. Indem
es sich seiner Befugniß bediente, dem Präsidenten die Anwendung des Amnestie¬
gesetzes auf die einzelnen Personen nach Gutdünken zu empfehlen, lehnte es die
Zumuthung ab, Blanqui der Amnestie theilhaftig zu machen. Er soll aus der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/496>, abgerufen am 27.09.2024.