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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Forderung hervor, daß man alle über zehn Jahre alten Einwohner aus dem
Staate vertreiben (!) und die zurückgebliebenen Kinder nach den neuen Prin¬
zipien erziehen müsse. Allerdings war dies unter den obwaltenden Umständen
eine nothwendige Voraussetzung. Denn um eine Bürgerschaft zu erhalten, die
sich dem Geiste des platonischen Staates fügte, mußte sie von Kindheit an
dazu dressirt werden. Um aber eine solche Erziehung durchzusetzen, hätte erst
die vorhandene Bürgerschaft von dem neuen Geiste durchdrungen sein müssen.
Aus diesem Dilemma gab es keinen Ausweg, als Austreibung der Alten.
Wie diese zu bewirken sei, erfahren wir freilich nicht. Sollte man es anch
für möglich halten, daß die Bürgerschaft eines andern Staates sich zu Exeku¬
toren hergegeben oder daß in einer Monarchie wie der syrakusanischen die
Truppen die Austreibung vollzogen hätten, so bleibt immer noch das Räthsel
ungelöst, wo man die zur Pflege und Erziehung der Tausende von verwaisten
Kindern geeigneten Personen und den Unterhalt für Alle hergenommen hätte.
Vermuthlich würden die Kinder der Verwilderung und dem Hungertode an¬
heimgefallen sein, was im Verein mit der Vertreibung aller Erwachsenen von
Haus und Hof und dem wahrscheinlichen Untergange eines großen Theils von
ihnen im Verzweifelungskampfe einen erbaulichen Prolog zur "Volksbeglückung"
gebildet haben würde.

Fehlt aber der Art der platonischen Reformvorschläge jeder Schatten einer
Berechtigung, so gilt dies nicht in gleicher Weise für die Gründe derselben.
Es gab ihrer viele und wichtige, und man kann ihnen ebensowenig wie den in
der Gegenwart geltend gemachten die Anerkennung versagen.

Platon nimmt sechs Haupt-Verfassungsformen an und stellt sie nach ihrem
Werthe in folgende Rangordnung: Gesetzmäßige Einzelherrschaft oder König¬
thum -- Gesetzestreue Herrschaft der Vornehmen oder Aristokratie -- Gesetz¬
mäßige Demokratie -- Gesetzlose Demokratie -- Gesetzlose Herrschaft der Vor¬
nehmen oder Oligarchie -- Ungesetzliche Alleinherrschaft oder Tyrannis. Auf
Grund der thatsächliche,! Verhältnisse gibt er an anderer Stelle eine andere
Zahl und Ordnung an, nämlich: Timokratie, Oligarchie, Demokratie und
Tyrannis, an denen allen er aber so viele Nachtheile und Schwächen entdeckt,
daß nicht einmal die erste von ihnen sich mit seinem Idealstaate messen kann

Als Timokratie bezeichnet er die Verfassung von Sparta und Kreta, den
Staaten also, welche er relativ am höchsten stellt. Aber auch sie haben in
seinen Augen einen Krebsschaden "in der Furcht, die Weisen zur Herrschaft zu
bringen, und in der Hinneigung zu den Muthigen und Einfacheren, die mehr
für den Krieg angelegt sind als für den Frieden," d. h. in der übermüßigen
Betonung des militärischen Elements und in der Ausübung der Herrschaft
durch die Kriegerkaste, wodurch die verwerfliche Knechtung der Periölen und


Forderung hervor, daß man alle über zehn Jahre alten Einwohner aus dem
Staate vertreiben (!) und die zurückgebliebenen Kinder nach den neuen Prin¬
zipien erziehen müsse. Allerdings war dies unter den obwaltenden Umständen
eine nothwendige Voraussetzung. Denn um eine Bürgerschaft zu erhalten, die
sich dem Geiste des platonischen Staates fügte, mußte sie von Kindheit an
dazu dressirt werden. Um aber eine solche Erziehung durchzusetzen, hätte erst
die vorhandene Bürgerschaft von dem neuen Geiste durchdrungen sein müssen.
Aus diesem Dilemma gab es keinen Ausweg, als Austreibung der Alten.
Wie diese zu bewirken sei, erfahren wir freilich nicht. Sollte man es anch
für möglich halten, daß die Bürgerschaft eines andern Staates sich zu Exeku¬
toren hergegeben oder daß in einer Monarchie wie der syrakusanischen die
Truppen die Austreibung vollzogen hätten, so bleibt immer noch das Räthsel
ungelöst, wo man die zur Pflege und Erziehung der Tausende von verwaisten
Kindern geeigneten Personen und den Unterhalt für Alle hergenommen hätte.
Vermuthlich würden die Kinder der Verwilderung und dem Hungertode an¬
heimgefallen sein, was im Verein mit der Vertreibung aller Erwachsenen von
Haus und Hof und dem wahrscheinlichen Untergange eines großen Theils von
ihnen im Verzweifelungskampfe einen erbaulichen Prolog zur „Volksbeglückung"
gebildet haben würde.

Fehlt aber der Art der platonischen Reformvorschläge jeder Schatten einer
Berechtigung, so gilt dies nicht in gleicher Weise für die Gründe derselben.
Es gab ihrer viele und wichtige, und man kann ihnen ebensowenig wie den in
der Gegenwart geltend gemachten die Anerkennung versagen.

Platon nimmt sechs Haupt-Verfassungsformen an und stellt sie nach ihrem
Werthe in folgende Rangordnung: Gesetzmäßige Einzelherrschaft oder König¬
thum — Gesetzestreue Herrschaft der Vornehmen oder Aristokratie — Gesetz¬
mäßige Demokratie — Gesetzlose Demokratie — Gesetzlose Herrschaft der Vor¬
nehmen oder Oligarchie — Ungesetzliche Alleinherrschaft oder Tyrannis. Auf
Grund der thatsächliche,! Verhältnisse gibt er an anderer Stelle eine andere
Zahl und Ordnung an, nämlich: Timokratie, Oligarchie, Demokratie und
Tyrannis, an denen allen er aber so viele Nachtheile und Schwächen entdeckt,
daß nicht einmal die erste von ihnen sich mit seinem Idealstaate messen kann

Als Timokratie bezeichnet er die Verfassung von Sparta und Kreta, den
Staaten also, welche er relativ am höchsten stellt. Aber auch sie haben in
seinen Augen einen Krebsschaden „in der Furcht, die Weisen zur Herrschaft zu
bringen, und in der Hinneigung zu den Muthigen und Einfacheren, die mehr
für den Krieg angelegt sind als für den Frieden," d. h. in der übermüßigen
Betonung des militärischen Elements und in der Ausübung der Herrschaft
durch die Kriegerkaste, wodurch die verwerfliche Knechtung der Periölen und


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[0462] Forderung hervor, daß man alle über zehn Jahre alten Einwohner aus dem Staate vertreiben (!) und die zurückgebliebenen Kinder nach den neuen Prin¬ zipien erziehen müsse. Allerdings war dies unter den obwaltenden Umständen eine nothwendige Voraussetzung. Denn um eine Bürgerschaft zu erhalten, die sich dem Geiste des platonischen Staates fügte, mußte sie von Kindheit an dazu dressirt werden. Um aber eine solche Erziehung durchzusetzen, hätte erst die vorhandene Bürgerschaft von dem neuen Geiste durchdrungen sein müssen. Aus diesem Dilemma gab es keinen Ausweg, als Austreibung der Alten. Wie diese zu bewirken sei, erfahren wir freilich nicht. Sollte man es anch für möglich halten, daß die Bürgerschaft eines andern Staates sich zu Exeku¬ toren hergegeben oder daß in einer Monarchie wie der syrakusanischen die Truppen die Austreibung vollzogen hätten, so bleibt immer noch das Räthsel ungelöst, wo man die zur Pflege und Erziehung der Tausende von verwaisten Kindern geeigneten Personen und den Unterhalt für Alle hergenommen hätte. Vermuthlich würden die Kinder der Verwilderung und dem Hungertode an¬ heimgefallen sein, was im Verein mit der Vertreibung aller Erwachsenen von Haus und Hof und dem wahrscheinlichen Untergange eines großen Theils von ihnen im Verzweifelungskampfe einen erbaulichen Prolog zur „Volksbeglückung" gebildet haben würde. Fehlt aber der Art der platonischen Reformvorschläge jeder Schatten einer Berechtigung, so gilt dies nicht in gleicher Weise für die Gründe derselben. Es gab ihrer viele und wichtige, und man kann ihnen ebensowenig wie den in der Gegenwart geltend gemachten die Anerkennung versagen. Platon nimmt sechs Haupt-Verfassungsformen an und stellt sie nach ihrem Werthe in folgende Rangordnung: Gesetzmäßige Einzelherrschaft oder König¬ thum — Gesetzestreue Herrschaft der Vornehmen oder Aristokratie — Gesetz¬ mäßige Demokratie — Gesetzlose Demokratie — Gesetzlose Herrschaft der Vor¬ nehmen oder Oligarchie — Ungesetzliche Alleinherrschaft oder Tyrannis. Auf Grund der thatsächliche,! Verhältnisse gibt er an anderer Stelle eine andere Zahl und Ordnung an, nämlich: Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis, an denen allen er aber so viele Nachtheile und Schwächen entdeckt, daß nicht einmal die erste von ihnen sich mit seinem Idealstaate messen kann Als Timokratie bezeichnet er die Verfassung von Sparta und Kreta, den Staaten also, welche er relativ am höchsten stellt. Aber auch sie haben in seinen Augen einen Krebsschaden „in der Furcht, die Weisen zur Herrschaft zu bringen, und in der Hinneigung zu den Muthigen und Einfacheren, die mehr für den Krieg angelegt sind als für den Frieden," d. h. in der übermüßigen Betonung des militärischen Elements und in der Ausübung der Herrschaft durch die Kriegerkaste, wodurch die verwerfliche Knechtung der Periölen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/462>, abgerufen am 20.10.2024.