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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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behielt. Das Tuch ist so meisterhaft gemalt, daß es beinahe selbst ein Wunder
ist. Rationalistisch gesinnte Menschen erklären dieses Wunder allerdings da¬
durch, daß sie behaupten, der Maler habe einfach ein grobfasriges Tuch auf
die dick aufgetragene, halbtrockene Farbe gedrückt und durch diesen geistreichen
Kunstgriff den stupenden Eindruck hervorgerufen. Wir halten dies natürlich
für pure Verleumdung Und bewundern nach wie vor das vergilbte, an den
Kanten ausgefaserte, vom Schmutze des Alters stark angegriffene Tuch, welches
hie und da von Blutstropfen befleckt ist. Die Haare Hunger wirr um das
dornengekrönte Haupt, um die hohe Stirn und die hohlen, bleichen Wangen
und vereinigen sich unten mit den Strähnen des Bartes. Der Mund ist schmerz¬
lich zusammengekniffen, die Wimpern sind sest geschlossen und die Augen tief in
ihre Höhlen herabgesunken, als wären sie äußerer Gewalt, einem starken Drucke
gewichen. Wo das Augenlid mit dem Knochen des Stirnbeins einen Winkel
bildet, ruht ein tiefer kreisrunder Schatten, der dadurch eingermaßen, aber noch nicht
ganz erklärlich wird, daß das Licht von oben herabfällt und die Stirn und das
Nasenbein voll beleuchtet. Für den vom Bilde Zurücktretenden ruft der kleine
runde Schatten die Illusion der Pupille des geöffneten Anges hervor. Wo die
Wimper mit dein unteren Lide zusammentrifft, lagert sich wiederum ein tiefer
bläulicher Schatten, wie er sich nach dem Tode und selbst bei Lebenden einstellt,
welche schwere Nachtarbeit, schwere Leiden und Krankheiten durchgemacht haben.
Das Blut von der Stirn fließt über das rechte Ange auf die Wange herab.

Dieser Anblick bietet sich dem Beschauer, wenn er dicht vor das Bild tritt.
Entfernt man sich dagegen allmählich Schritt für Schritt, so öffnen sich nach und
nach die Augen des Heilandes. Der dunkle Fleck auf dem geschlossenen Augenlide
gewinnt Glanz und Leben, er hellt sich zu stumpfer Bläue auf und, wenn der
Beschauer seinen Standpunkt etwa fünf Fuß von dem Bilde entfernt genommen
hat, blicken ihn die weit geöffneten, halb verschleierten Augen des Heilandes
schwermüthig an. Zu gleicher Zeit scheinen sich auch die übrigen Theile des
Gesichtes zu beleben: Die Wangen scheinen voller zu werden, und die Lippen
wölben und öffnen sich halb, als wollten sie fragen: "Warum habt ihr mir
das gethan?"

Dieses Kunststück entzieht sich bereits einer ernsthaften Kunstkritik. Man
bedauert nur, daß ein immerhin vornehm veranlagtes Talent sich zu solchen
gemeinen Jährmarktslniffen hergegeben hat und sich deu groben Humbug ge¬
fallen läßt, den der mit dem Bilde herumziehende Kornak aller Orten in Szene
setzt. Aber Gabriel Max that noch ein mehreres: er malte zwei Pendants zu
dem Christusbilde, Maria Magdalena und Judas Ischarioth, dort die "verklärte",
hier die "verzweifelte" Reue, wie der Maler wiederum höchst geistreich seine
Bilder nannte. Das Haupt des Selbstmörders hängt, von Raben umkreist, in


behielt. Das Tuch ist so meisterhaft gemalt, daß es beinahe selbst ein Wunder
ist. Rationalistisch gesinnte Menschen erklären dieses Wunder allerdings da¬
durch, daß sie behaupten, der Maler habe einfach ein grobfasriges Tuch auf
die dick aufgetragene, halbtrockene Farbe gedrückt und durch diesen geistreichen
Kunstgriff den stupenden Eindruck hervorgerufen. Wir halten dies natürlich
für pure Verleumdung Und bewundern nach wie vor das vergilbte, an den
Kanten ausgefaserte, vom Schmutze des Alters stark angegriffene Tuch, welches
hie und da von Blutstropfen befleckt ist. Die Haare Hunger wirr um das
dornengekrönte Haupt, um die hohe Stirn und die hohlen, bleichen Wangen
und vereinigen sich unten mit den Strähnen des Bartes. Der Mund ist schmerz¬
lich zusammengekniffen, die Wimpern sind sest geschlossen und die Augen tief in
ihre Höhlen herabgesunken, als wären sie äußerer Gewalt, einem starken Drucke
gewichen. Wo das Augenlid mit dem Knochen des Stirnbeins einen Winkel
bildet, ruht ein tiefer kreisrunder Schatten, der dadurch eingermaßen, aber noch nicht
ganz erklärlich wird, daß das Licht von oben herabfällt und die Stirn und das
Nasenbein voll beleuchtet. Für den vom Bilde Zurücktretenden ruft der kleine
runde Schatten die Illusion der Pupille des geöffneten Anges hervor. Wo die
Wimper mit dein unteren Lide zusammentrifft, lagert sich wiederum ein tiefer
bläulicher Schatten, wie er sich nach dem Tode und selbst bei Lebenden einstellt,
welche schwere Nachtarbeit, schwere Leiden und Krankheiten durchgemacht haben.
Das Blut von der Stirn fließt über das rechte Ange auf die Wange herab.

Dieser Anblick bietet sich dem Beschauer, wenn er dicht vor das Bild tritt.
Entfernt man sich dagegen allmählich Schritt für Schritt, so öffnen sich nach und
nach die Augen des Heilandes. Der dunkle Fleck auf dem geschlossenen Augenlide
gewinnt Glanz und Leben, er hellt sich zu stumpfer Bläue auf und, wenn der
Beschauer seinen Standpunkt etwa fünf Fuß von dem Bilde entfernt genommen
hat, blicken ihn die weit geöffneten, halb verschleierten Augen des Heilandes
schwermüthig an. Zu gleicher Zeit scheinen sich auch die übrigen Theile des
Gesichtes zu beleben: Die Wangen scheinen voller zu werden, und die Lippen
wölben und öffnen sich halb, als wollten sie fragen: „Warum habt ihr mir
das gethan?"

Dieses Kunststück entzieht sich bereits einer ernsthaften Kunstkritik. Man
bedauert nur, daß ein immerhin vornehm veranlagtes Talent sich zu solchen
gemeinen Jährmarktslniffen hergegeben hat und sich deu groben Humbug ge¬
fallen läßt, den der mit dem Bilde herumziehende Kornak aller Orten in Szene
setzt. Aber Gabriel Max that noch ein mehreres: er malte zwei Pendants zu
dem Christusbilde, Maria Magdalena und Judas Ischarioth, dort die „verklärte",
hier die „verzweifelte" Reue, wie der Maler wiederum höchst geistreich seine
Bilder nannte. Das Haupt des Selbstmörders hängt, von Raben umkreist, in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/32>, abgerufen am 27.12.2024.