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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Gretchen denken (1831), die ich hier folgen lasse, nur um zu zeigen, daß alles
schon einmal dagewesen: "Sie ist zwar Wolfgang Goethe's Gretchen, aber sie
hat den ganzen Friedrich Schiller gelesen, und sie ist viel mehr sentimental als
naiv und viel mehr schwer idealisch als leicht graziös."

Viel mehr sentimental als naiv! Darin liegt auch der Schwerpunkt der
Schöpfungen von Gabriel Max, darin ist ihr Hauptfehler, ihre interessante
Schwäche begründet, aber auch das Geheimniß ihres Erfolges bei dem Publikum
der modernen Salons, welches fo gern mit seinen Nerven kokettirt. Diesem
sentimentalen Bedürfniß kommt auch eine Reihe von Genrebildern entgegen,
welche ohne die Beimischung des Grauenhaften auch in Privatkreisen Käufer
gefunden haben. Gabriel Max liebt es, solchen Bildern geheimnißvolle, epi¬
grammatisch zugespitzte Titel zu geben, aus denen man gleich eine ganze Novelle
Herausbuchstabiren kann. Ein Mädchen, das beim Morgengrauen vom Balle
heimgekehrt ist und nun, im Begriff zu Bett zu gehen, beim Ablegen seines
Flitterstaates inne wird, daß auch seine Jugend zur Neige gegangen ist, wie
der rauschende Ballabend; sie sitzt auf ihrem Bett und preßt die Hände vor's
Gesichts -- wie geistreich, wie seelenvoll, wie hübsch pointirt! "Verbinde!"
heißt die Devise des Genrebildes. Eine junge Dame, die einsam in ihrem
Zimmer am Klaviere, dem Tröster aller unverstandenen Seelen, sitzt -- "Still¬
leben" genannt. Ist das nicht witzig', geistreich und melancholisch zugleich?

Doch genug damit -- der nächste Trumpf, den Gabriel Max nach seinem
Gretchen ausspielte, war die Julia Capulet, zu der er sich nach seiner Behauptung
die Inspiration aus dem Shakespeare geholt hatte. Er hat die scheintodte
Julia, die den Schlaftrunk genommen, auf ihrem Lager dargestellt, dessen Ein¬
samkeit mit ihr noch ein Wachtelhund theilt. Im Hintergrunde sieht man be¬
reits durch ein Fenster die Hochzeitsgesellschaft nahen, mit Graf Paris an der
Spitze, mit Musikanten, welche der jungen Braut ein Ständchen bringen wol¬
len. Aber diese Leute sind so gemalt, als wären sie hundert Schritte von der
Schläferin entfernt. Es ist wieder die unglückselige Perspektive, die dem Maler
in die Quere kommt. Aber was hat er aus der Julia gemacht, der "schönen
Sonne" Romeo's, um derentwillen Luna "in blassem Neide sich verzehrt"? Ein
kleines, verwachsenes Mädchen -- Jemand hat behauptet, daß ihr Oberschenkel
schon in der Nähe des Magens beginnt -- liegt, mit einem schmutzig blauen
Gewände angethan, auf einem mit schmutzig grünem Tuch drapirten Lager, aus dessen
oberen Theil noch ein großer grüner Vorhang herabfüllt, so daß sich auf dem
gelblichen Angesichte der Julia noch blaue und grünliche Töne Rendezvous
geben. Wir nehmen den Shakespeare zur Hand und trauen unseren Augen
nicht; da steht: "es liegt der Tod auf ihr, wie Maienfrost auf der Ge¬
filde schönster Blume liegt." Eine schlafende Rose hätte nicht an die Nerven


Grenzboten II. 1879. 4

Gretchen denken (1831), die ich hier folgen lasse, nur um zu zeigen, daß alles
schon einmal dagewesen: „Sie ist zwar Wolfgang Goethe's Gretchen, aber sie
hat den ganzen Friedrich Schiller gelesen, und sie ist viel mehr sentimental als
naiv und viel mehr schwer idealisch als leicht graziös."

Viel mehr sentimental als naiv! Darin liegt auch der Schwerpunkt der
Schöpfungen von Gabriel Max, darin ist ihr Hauptfehler, ihre interessante
Schwäche begründet, aber auch das Geheimniß ihres Erfolges bei dem Publikum
der modernen Salons, welches fo gern mit seinen Nerven kokettirt. Diesem
sentimentalen Bedürfniß kommt auch eine Reihe von Genrebildern entgegen,
welche ohne die Beimischung des Grauenhaften auch in Privatkreisen Käufer
gefunden haben. Gabriel Max liebt es, solchen Bildern geheimnißvolle, epi¬
grammatisch zugespitzte Titel zu geben, aus denen man gleich eine ganze Novelle
Herausbuchstabiren kann. Ein Mädchen, das beim Morgengrauen vom Balle
heimgekehrt ist und nun, im Begriff zu Bett zu gehen, beim Ablegen seines
Flitterstaates inne wird, daß auch seine Jugend zur Neige gegangen ist, wie
der rauschende Ballabend; sie sitzt auf ihrem Bett und preßt die Hände vor's
Gesichts — wie geistreich, wie seelenvoll, wie hübsch pointirt! „Verbinde!"
heißt die Devise des Genrebildes. Eine junge Dame, die einsam in ihrem
Zimmer am Klaviere, dem Tröster aller unverstandenen Seelen, sitzt — „Still¬
leben" genannt. Ist das nicht witzig', geistreich und melancholisch zugleich?

Doch genug damit — der nächste Trumpf, den Gabriel Max nach seinem
Gretchen ausspielte, war die Julia Capulet, zu der er sich nach seiner Behauptung
die Inspiration aus dem Shakespeare geholt hatte. Er hat die scheintodte
Julia, die den Schlaftrunk genommen, auf ihrem Lager dargestellt, dessen Ein¬
samkeit mit ihr noch ein Wachtelhund theilt. Im Hintergrunde sieht man be¬
reits durch ein Fenster die Hochzeitsgesellschaft nahen, mit Graf Paris an der
Spitze, mit Musikanten, welche der jungen Braut ein Ständchen bringen wol¬
len. Aber diese Leute sind so gemalt, als wären sie hundert Schritte von der
Schläferin entfernt. Es ist wieder die unglückselige Perspektive, die dem Maler
in die Quere kommt. Aber was hat er aus der Julia gemacht, der „schönen
Sonne" Romeo's, um derentwillen Luna „in blassem Neide sich verzehrt"? Ein
kleines, verwachsenes Mädchen — Jemand hat behauptet, daß ihr Oberschenkel
schon in der Nähe des Magens beginnt — liegt, mit einem schmutzig blauen
Gewände angethan, auf einem mit schmutzig grünem Tuch drapirten Lager, aus dessen
oberen Theil noch ein großer grüner Vorhang herabfüllt, so daß sich auf dem
gelblichen Angesichte der Julia noch blaue und grünliche Töne Rendezvous
geben. Wir nehmen den Shakespeare zur Hand und trauen unseren Augen
nicht; da steht: „es liegt der Tod auf ihr, wie Maienfrost auf der Ge¬
filde schönster Blume liegt." Eine schlafende Rose hätte nicht an die Nerven


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/29>, abgerufen am 27.12.2024.