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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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davon den Anfang der Gewinnung des Landes erhoffen, das heißt Vogeldunst
abschießen, wo es des schweren Geschützes bedarf. Das ist aber offenbar
nöthig, wenn wir aus den Halbheiten der öffentlichen Zustände in Elsaß-
Lothringen die Elsässer und uns selbst befreien wollen. Auf diesem Boden,
der halb wie ein verwaltetes Territorium, halb wie ein selbständiger Staat
aussieht und keines von beiden voll und ganz ist, kann sich eine Partei¬
bildung in voller Klarheit gar nicht vollziehen. Hier werden staatsrechtliche
Fragen von solcher Subtilität erörtert, daß sie sich dem Verstände der Masse
in noch weit höherem Grade entziehen als sonstige politische Fragen. Gerade
darum, weil die Gegenwart auf dem Gebiete des Staatslebens keine Fragen
von lebendiger Bedeutung stellt, treiben sich hier noch die Trümmer der alten
französischen Parteien auf der Oberfläche umher, in deren Tiefe die nationale
Sympathie und Antipathie nach dem ^großen Sturm des Krieges noch immer
wogt. Für die große Menge der Bevölkerung bleibt das öffentliche Leben,
wie es sich bisher gestaltet hat, unverstanden. In ihren Kreisen herrscht blos
ein Bedürfniß, das der Ruhe, der Gewißheit.

Wie sich diese Gewißheit gestalte, ist für den Moment weder mit Hoffnung
noch mit Furcht zu erfassen. Was aber auch kommen mag, es wird eine stark
leitungsbedürftige Bevölkerung vorfinden. Gegenüber diesen Zuständen sollte
man nicht mit leichtem Herzen das Palliativ Mittel einiger Gesetzesparagraphen
anwenden, die in kurzer Zeit neue Aenderung, neue Unruhe bedingen, insofern
sie sich allein auf die Verwaltungsform beziehen. Was noth thut, das ist
die ganz bestimmte Bezeichnung des Zieles, zu dem sich in dem nächsten
Menschenalter die Bevölkerung der Reichslande hinbewegen soll. Folgerichtig
kann es hier nur ein Entweder-Oder geben: Annexion an Preußen oder Er¬
richtung eines Bundesstaates. Das erste ist 1871 nicht geschehen, und auch
jetzt scheinen sich ihm starke Bedenken in allen Partikularistischen Kreisen ent¬
gegenzustellen. So wenig aussichtsvoll ist eine Erlösung von dieser Seite, daß
eifrige Verfechter der Annexionsidee wohl davon sprechen, nur der nächste
Krieg könne mit seinem Schwerte diesen gordischen Knoten durchhauen. So
gordisch ist der Knoten der sogenannten elsässischen Frage nun doch nicht
vor einem Kriege wollen wir bewahrt werden, so lange er uns nicht aufge¬
drungen wird. Wir haben auch im Frieden Mittel und Wege, um den Elsässern
die definitive Richtung zu geben, wenn wir sie auch nicht gleich an das defi¬
nitive Ziel versetzen. So bleibt also die Errichtung eines Bundesstaats, aber
doch wohl eines solchen, dem partikulare Gelüste gegenüber der Zentralgewalt
von vornherein vergehen, der genau so, wie jetzt das Reichsland an die Ge¬
sammtheit des Reiches gebunden ist, auf das Engste mit der Zentralgewalt des
Reiches verbunden sei. Wie man ihn einrichten, wann man das Einzelne aus-


davon den Anfang der Gewinnung des Landes erhoffen, das heißt Vogeldunst
abschießen, wo es des schweren Geschützes bedarf. Das ist aber offenbar
nöthig, wenn wir aus den Halbheiten der öffentlichen Zustände in Elsaß-
Lothringen die Elsässer und uns selbst befreien wollen. Auf diesem Boden,
der halb wie ein verwaltetes Territorium, halb wie ein selbständiger Staat
aussieht und keines von beiden voll und ganz ist, kann sich eine Partei¬
bildung in voller Klarheit gar nicht vollziehen. Hier werden staatsrechtliche
Fragen von solcher Subtilität erörtert, daß sie sich dem Verstände der Masse
in noch weit höherem Grade entziehen als sonstige politische Fragen. Gerade
darum, weil die Gegenwart auf dem Gebiete des Staatslebens keine Fragen
von lebendiger Bedeutung stellt, treiben sich hier noch die Trümmer der alten
französischen Parteien auf der Oberfläche umher, in deren Tiefe die nationale
Sympathie und Antipathie nach dem ^großen Sturm des Krieges noch immer
wogt. Für die große Menge der Bevölkerung bleibt das öffentliche Leben,
wie es sich bisher gestaltet hat, unverstanden. In ihren Kreisen herrscht blos
ein Bedürfniß, das der Ruhe, der Gewißheit.

Wie sich diese Gewißheit gestalte, ist für den Moment weder mit Hoffnung
noch mit Furcht zu erfassen. Was aber auch kommen mag, es wird eine stark
leitungsbedürftige Bevölkerung vorfinden. Gegenüber diesen Zuständen sollte
man nicht mit leichtem Herzen das Palliativ Mittel einiger Gesetzesparagraphen
anwenden, die in kurzer Zeit neue Aenderung, neue Unruhe bedingen, insofern
sie sich allein auf die Verwaltungsform beziehen. Was noth thut, das ist
die ganz bestimmte Bezeichnung des Zieles, zu dem sich in dem nächsten
Menschenalter die Bevölkerung der Reichslande hinbewegen soll. Folgerichtig
kann es hier nur ein Entweder-Oder geben: Annexion an Preußen oder Er¬
richtung eines Bundesstaates. Das erste ist 1871 nicht geschehen, und auch
jetzt scheinen sich ihm starke Bedenken in allen Partikularistischen Kreisen ent¬
gegenzustellen. So wenig aussichtsvoll ist eine Erlösung von dieser Seite, daß
eifrige Verfechter der Annexionsidee wohl davon sprechen, nur der nächste
Krieg könne mit seinem Schwerte diesen gordischen Knoten durchhauen. So
gordisch ist der Knoten der sogenannten elsässischen Frage nun doch nicht
vor einem Kriege wollen wir bewahrt werden, so lange er uns nicht aufge¬
drungen wird. Wir haben auch im Frieden Mittel und Wege, um den Elsässern
die definitive Richtung zu geben, wenn wir sie auch nicht gleich an das defi¬
nitive Ziel versetzen. So bleibt also die Errichtung eines Bundesstaats, aber
doch wohl eines solchen, dem partikulare Gelüste gegenüber der Zentralgewalt
von vornherein vergehen, der genau so, wie jetzt das Reichsland an die Ge¬
sammtheit des Reiches gebunden ist, auf das Engste mit der Zentralgewalt des
Reiches verbunden sei. Wie man ihn einrichten, wann man das Einzelne aus-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/284>, abgerufen am 27.09.2024.