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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Siebe, in den Muskeln Hebel. Die Empfindungen waren Schwingungen der
gleich Saiten gespannten Nerven, die Absonderungen Folge des Drucks der
Gefäße auf das Blut, die meisten Krankheiten nichts als Stockungen der Säfte.
Alles wurde durch Zahlen ausgedrückt, durch mathematische Formeln und
Figuren erläutert und mit Maß und Waage bestimmt. Doch blieb man mit
diesen wunderlichen Ansichten auf dem Gebiete der Theorie und schlug in der
Praxis den von Hippokrates empfohlenen empirischen Weg ein, sodaß die
Menschheit von den Dogmen dieser Schule wenig zu leiden hatte.

So war die praktische Medizin um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts
ein Wirrsal von Wahrheit und Dichtung, von Erfahrungen und phantastischen
Vermuthungen. Es galt, sie der Herrschaft der Physiologie zu entreißen, die
damals ein Gewebe von richtigen Beobachtungen und überkühnen Hypothesen
war, und sie in die Arme der wahren Erfahrung zu führen. Dies geschah
durch Sydenham, doch auch nur bis zu einem gewissen Grade. Derselbe glaubte
zwar, nur durch genaue Erforschung sämmtlicher Krankheitserscheinungen zum
Ziele gelangen zu können, gestattete sich aber doch gewisse Voraussetzungen, die
zu seiner Zeit als feststehende, keines Beweises bedürfende Wahrheiten galten,
und damit gerieth auch er nicht selten in bedenkliche Irrthümer. Dennoch hat
er sich große Verdienste erworben, die hauptsachlich in dem Zurückgreifen auf
den Geist der hippokratischen Beobachtung, in der Darstellung der Krankheit
als eines durchaus gesetzmäßigen Lebensvorganges, in der Begründung der
wissenschaftlichen Epidemiographie, in der Lehre von den Krankheitsprozessen
und in der Wiedereinsetzung der Naturheilkraft als des obersten Grundsatzes
der Therapie bestehen, wozu noch kommt, daß er die Nothwendigkeit der spezi¬
fischen Heilmethode nachwies und den Arzeneimittelvorrath beträchtlich ver¬
einfachte.

Einen weiteren Fortschritt in der Entwickelung der Medizin bezeichnet zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Kleeblatt von Aerzten deutschen Stammes:
Boerhave, Hoffmann und Stahl. In den Schulen der Chemiatriker und Jatro-
mechaniker hatte der Wunsch nach wissenschaftlich er Begründung der Heilkunde
seinen Ausdruck gefunden, aber man war hierdurch fast nur reicher an Hypo¬
thesen geworden. Vertreter der Reaktion gegen den unleidlichen Zustand, der
sich daraus gestaltete, war Sydenham gewesen, der auf dem Wege wissenschaft¬
licher Erfahrung aus den künstlerischen Standpunkt des Hippokrates zurück¬
gekehrt, dabei aber ungerecht gegen die Fortschritte der Physiologie und Ana¬
tomie geworden war. So kam es darauf an, der praktischen Heilkunde bei
aller Anerkennung ihrer künstlerischen Aufgabe die Vortheile zu sichern, die jene
Fortschritte ihr gewähren konnten. Dieses Ziel setzte sich Boerhave, welcher
mit voller Ueberzeugung von dem Werthe der Therapie und mit der größten


Siebe, in den Muskeln Hebel. Die Empfindungen waren Schwingungen der
gleich Saiten gespannten Nerven, die Absonderungen Folge des Drucks der
Gefäße auf das Blut, die meisten Krankheiten nichts als Stockungen der Säfte.
Alles wurde durch Zahlen ausgedrückt, durch mathematische Formeln und
Figuren erläutert und mit Maß und Waage bestimmt. Doch blieb man mit
diesen wunderlichen Ansichten auf dem Gebiete der Theorie und schlug in der
Praxis den von Hippokrates empfohlenen empirischen Weg ein, sodaß die
Menschheit von den Dogmen dieser Schule wenig zu leiden hatte.

So war die praktische Medizin um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts
ein Wirrsal von Wahrheit und Dichtung, von Erfahrungen und phantastischen
Vermuthungen. Es galt, sie der Herrschaft der Physiologie zu entreißen, die
damals ein Gewebe von richtigen Beobachtungen und überkühnen Hypothesen
war, und sie in die Arme der wahren Erfahrung zu führen. Dies geschah
durch Sydenham, doch auch nur bis zu einem gewissen Grade. Derselbe glaubte
zwar, nur durch genaue Erforschung sämmtlicher Krankheitserscheinungen zum
Ziele gelangen zu können, gestattete sich aber doch gewisse Voraussetzungen, die
zu seiner Zeit als feststehende, keines Beweises bedürfende Wahrheiten galten,
und damit gerieth auch er nicht selten in bedenkliche Irrthümer. Dennoch hat
er sich große Verdienste erworben, die hauptsachlich in dem Zurückgreifen auf
den Geist der hippokratischen Beobachtung, in der Darstellung der Krankheit
als eines durchaus gesetzmäßigen Lebensvorganges, in der Begründung der
wissenschaftlichen Epidemiographie, in der Lehre von den Krankheitsprozessen
und in der Wiedereinsetzung der Naturheilkraft als des obersten Grundsatzes
der Therapie bestehen, wozu noch kommt, daß er die Nothwendigkeit der spezi¬
fischen Heilmethode nachwies und den Arzeneimittelvorrath beträchtlich ver¬
einfachte.

Einen weiteren Fortschritt in der Entwickelung der Medizin bezeichnet zu
Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Kleeblatt von Aerzten deutschen Stammes:
Boerhave, Hoffmann und Stahl. In den Schulen der Chemiatriker und Jatro-
mechaniker hatte der Wunsch nach wissenschaftlich er Begründung der Heilkunde
seinen Ausdruck gefunden, aber man war hierdurch fast nur reicher an Hypo¬
thesen geworden. Vertreter der Reaktion gegen den unleidlichen Zustand, der
sich daraus gestaltete, war Sydenham gewesen, der auf dem Wege wissenschaft¬
licher Erfahrung aus den künstlerischen Standpunkt des Hippokrates zurück¬
gekehrt, dabei aber ungerecht gegen die Fortschritte der Physiologie und Ana¬
tomie geworden war. So kam es darauf an, der praktischen Heilkunde bei
aller Anerkennung ihrer künstlerischen Aufgabe die Vortheile zu sichern, die jene
Fortschritte ihr gewähren konnten. Dieses Ziel setzte sich Boerhave, welcher
mit voller Ueberzeugung von dem Werthe der Therapie und mit der größten


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[0272] Siebe, in den Muskeln Hebel. Die Empfindungen waren Schwingungen der gleich Saiten gespannten Nerven, die Absonderungen Folge des Drucks der Gefäße auf das Blut, die meisten Krankheiten nichts als Stockungen der Säfte. Alles wurde durch Zahlen ausgedrückt, durch mathematische Formeln und Figuren erläutert und mit Maß und Waage bestimmt. Doch blieb man mit diesen wunderlichen Ansichten auf dem Gebiete der Theorie und schlug in der Praxis den von Hippokrates empfohlenen empirischen Weg ein, sodaß die Menschheit von den Dogmen dieser Schule wenig zu leiden hatte. So war die praktische Medizin um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts ein Wirrsal von Wahrheit und Dichtung, von Erfahrungen und phantastischen Vermuthungen. Es galt, sie der Herrschaft der Physiologie zu entreißen, die damals ein Gewebe von richtigen Beobachtungen und überkühnen Hypothesen war, und sie in die Arme der wahren Erfahrung zu führen. Dies geschah durch Sydenham, doch auch nur bis zu einem gewissen Grade. Derselbe glaubte zwar, nur durch genaue Erforschung sämmtlicher Krankheitserscheinungen zum Ziele gelangen zu können, gestattete sich aber doch gewisse Voraussetzungen, die zu seiner Zeit als feststehende, keines Beweises bedürfende Wahrheiten galten, und damit gerieth auch er nicht selten in bedenkliche Irrthümer. Dennoch hat er sich große Verdienste erworben, die hauptsachlich in dem Zurückgreifen auf den Geist der hippokratischen Beobachtung, in der Darstellung der Krankheit als eines durchaus gesetzmäßigen Lebensvorganges, in der Begründung der wissenschaftlichen Epidemiographie, in der Lehre von den Krankheitsprozessen und in der Wiedereinsetzung der Naturheilkraft als des obersten Grundsatzes der Therapie bestehen, wozu noch kommt, daß er die Nothwendigkeit der spezi¬ fischen Heilmethode nachwies und den Arzeneimittelvorrath beträchtlich ver¬ einfachte. Einen weiteren Fortschritt in der Entwickelung der Medizin bezeichnet zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Kleeblatt von Aerzten deutschen Stammes: Boerhave, Hoffmann und Stahl. In den Schulen der Chemiatriker und Jatro- mechaniker hatte der Wunsch nach wissenschaftlich er Begründung der Heilkunde seinen Ausdruck gefunden, aber man war hierdurch fast nur reicher an Hypo¬ thesen geworden. Vertreter der Reaktion gegen den unleidlichen Zustand, der sich daraus gestaltete, war Sydenham gewesen, der auf dem Wege wissenschaft¬ licher Erfahrung aus den künstlerischen Standpunkt des Hippokrates zurück¬ gekehrt, dabei aber ungerecht gegen die Fortschritte der Physiologie und Ana¬ tomie geworden war. So kam es darauf an, der praktischen Heilkunde bei aller Anerkennung ihrer künstlerischen Aufgabe die Vortheile zu sichern, die jene Fortschritte ihr gewähren konnten. Dieses Ziel setzte sich Boerhave, welcher mit voller Ueberzeugung von dem Werthe der Therapie und mit der größten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/272>, abgerufen am 27.09.2024.