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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Nun tauchte plötzlich die Macht des Zufalls auf, in ihrer grauenvollsten ver¬
haßtesten Gestalt, und gerade die Führer der Aufklärung, Voltaire voran,
legten sich die Frage vor, ob nicht vielleicht der blinde Zufall die Welt regiere.

Diese Frage sollte den Philosophen bald näher treten. Ein größeres
Unglück kam über die Welt, als das Erdbeben von Lissabon, ein Unglück für
drei Welttheile: der siebenjährige Krieg.

"Europa hat keine schöneren Tage gesehen, als die Jahre nach dem
Aachener Frieden, 1748 bis 1756. Der Handel blühte von Se. Petersburg
bis Cadix, und die schönen Künste standen überall in Ehren, alle Völker ver¬
kehrten mit einander; Europa glich einer großen Familie, die sich nach ihren
Zwistigkeiten geeinigt hat." So Voltaire in seiner "Geschichte Ludwig's XV."

Klopstock und Winckelmann hatten, indem sie auf Ziele hinwiesen, die
über das gemeine Wirkliche hinausgingen, den deutschen Idealismus begründet.
Nun aber trat ein Mann in den Vordergrund, der die Deutschen wieder aus
dem Lande der Träume und Ideale zu verdrängen schien, dessen gewaltiges
Leben alles verdunkelte, was sonst in Deutschland vorging: Friedrich
der Große.

Friedrich hatte sich wohl sagen müssen, daß mit dem Frieden von 1745
seine Eroberung noch nicht perfekt geworden sei; mit gespannter Aufmerksam¬
keit beobachtete er alle Schritte seiner Gegner.

Im Herbst 1755 trat das Ungeahnte ein: die beiden Großmächte Frank¬
reich und Oesterreich, deren Rivalität seit nahezu drei Jahrhunderten die Sig¬
natur der Weltstellung gewesen war, traten durch die Vermittelung des öster¬
reichischen Ministers Kaunitz in einen engen Bund, dem sich auch Rußland
anschloß.

Friedrich kam auf die Spur, und wenn er auch von dem Umfange der
Gefahr keine Vorstellung hatte, so erkannte er doch, daß für ihn die Rettung
nur in der äußersten Verwegenheit liege: er mußte den Feinden zuvorkommen.

Zwischen Frankreich und England stand ein Entscheidungskampf über die
Hegemonie in Asien und Amerika bevor; Preußen war demnach auf England
gewiesen. Ohne daß es in der Absicht der Fürsten lag, wurde die Konstella¬
tion so, daß zwei protestantische Mächte gegen zwei katholische den Kampf auf
Leben und Tod unternahmen. Am 5. Juli 1756 wurde in Berlin der Ver¬
trag mit England abgeschlossen.

In Dresden verzweigten sich alle Fäden der Verschwörung; dorthin rich¬
tete sich der erste Sturm. Am 28. August rückte Friedrich aus; am 9. Sep¬
tember zog er in Dresden ein, zwang am 15. Oktober die sächsische Armee
zur Kapitulation und bezog dann seine Winterquartiere in Dresden. Sachsen


Nun tauchte plötzlich die Macht des Zufalls auf, in ihrer grauenvollsten ver¬
haßtesten Gestalt, und gerade die Führer der Aufklärung, Voltaire voran,
legten sich die Frage vor, ob nicht vielleicht der blinde Zufall die Welt regiere.

Diese Frage sollte den Philosophen bald näher treten. Ein größeres
Unglück kam über die Welt, als das Erdbeben von Lissabon, ein Unglück für
drei Welttheile: der siebenjährige Krieg.

„Europa hat keine schöneren Tage gesehen, als die Jahre nach dem
Aachener Frieden, 1748 bis 1756. Der Handel blühte von Se. Petersburg
bis Cadix, und die schönen Künste standen überall in Ehren, alle Völker ver¬
kehrten mit einander; Europa glich einer großen Familie, die sich nach ihren
Zwistigkeiten geeinigt hat." So Voltaire in seiner „Geschichte Ludwig's XV."

Klopstock und Winckelmann hatten, indem sie auf Ziele hinwiesen, die
über das gemeine Wirkliche hinausgingen, den deutschen Idealismus begründet.
Nun aber trat ein Mann in den Vordergrund, der die Deutschen wieder aus
dem Lande der Träume und Ideale zu verdrängen schien, dessen gewaltiges
Leben alles verdunkelte, was sonst in Deutschland vorging: Friedrich
der Große.

Friedrich hatte sich wohl sagen müssen, daß mit dem Frieden von 1745
seine Eroberung noch nicht perfekt geworden sei; mit gespannter Aufmerksam¬
keit beobachtete er alle Schritte seiner Gegner.

Im Herbst 1755 trat das Ungeahnte ein: die beiden Großmächte Frank¬
reich und Oesterreich, deren Rivalität seit nahezu drei Jahrhunderten die Sig¬
natur der Weltstellung gewesen war, traten durch die Vermittelung des öster¬
reichischen Ministers Kaunitz in einen engen Bund, dem sich auch Rußland
anschloß.

Friedrich kam auf die Spur, und wenn er auch von dem Umfange der
Gefahr keine Vorstellung hatte, so erkannte er doch, daß für ihn die Rettung
nur in der äußersten Verwegenheit liege: er mußte den Feinden zuvorkommen.

Zwischen Frankreich und England stand ein Entscheidungskampf über die
Hegemonie in Asien und Amerika bevor; Preußen war demnach auf England
gewiesen. Ohne daß es in der Absicht der Fürsten lag, wurde die Konstella¬
tion so, daß zwei protestantische Mächte gegen zwei katholische den Kampf auf
Leben und Tod unternahmen. Am 5. Juli 1756 wurde in Berlin der Ver¬
trag mit England abgeschlossen.

In Dresden verzweigten sich alle Fäden der Verschwörung; dorthin rich¬
tete sich der erste Sturm. Am 28. August rückte Friedrich aus; am 9. Sep¬
tember zog er in Dresden ein, zwang am 15. Oktober die sächsische Armee
zur Kapitulation und bezog dann seine Winterquartiere in Dresden. Sachsen


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[0255] Nun tauchte plötzlich die Macht des Zufalls auf, in ihrer grauenvollsten ver¬ haßtesten Gestalt, und gerade die Führer der Aufklärung, Voltaire voran, legten sich die Frage vor, ob nicht vielleicht der blinde Zufall die Welt regiere. Diese Frage sollte den Philosophen bald näher treten. Ein größeres Unglück kam über die Welt, als das Erdbeben von Lissabon, ein Unglück für drei Welttheile: der siebenjährige Krieg. „Europa hat keine schöneren Tage gesehen, als die Jahre nach dem Aachener Frieden, 1748 bis 1756. Der Handel blühte von Se. Petersburg bis Cadix, und die schönen Künste standen überall in Ehren, alle Völker ver¬ kehrten mit einander; Europa glich einer großen Familie, die sich nach ihren Zwistigkeiten geeinigt hat." So Voltaire in seiner „Geschichte Ludwig's XV." Klopstock und Winckelmann hatten, indem sie auf Ziele hinwiesen, die über das gemeine Wirkliche hinausgingen, den deutschen Idealismus begründet. Nun aber trat ein Mann in den Vordergrund, der die Deutschen wieder aus dem Lande der Träume und Ideale zu verdrängen schien, dessen gewaltiges Leben alles verdunkelte, was sonst in Deutschland vorging: Friedrich der Große. Friedrich hatte sich wohl sagen müssen, daß mit dem Frieden von 1745 seine Eroberung noch nicht perfekt geworden sei; mit gespannter Aufmerksam¬ keit beobachtete er alle Schritte seiner Gegner. Im Herbst 1755 trat das Ungeahnte ein: die beiden Großmächte Frank¬ reich und Oesterreich, deren Rivalität seit nahezu drei Jahrhunderten die Sig¬ natur der Weltstellung gewesen war, traten durch die Vermittelung des öster¬ reichischen Ministers Kaunitz in einen engen Bund, dem sich auch Rußland anschloß. Friedrich kam auf die Spur, und wenn er auch von dem Umfange der Gefahr keine Vorstellung hatte, so erkannte er doch, daß für ihn die Rettung nur in der äußersten Verwegenheit liege: er mußte den Feinden zuvorkommen. Zwischen Frankreich und England stand ein Entscheidungskampf über die Hegemonie in Asien und Amerika bevor; Preußen war demnach auf England gewiesen. Ohne daß es in der Absicht der Fürsten lag, wurde die Konstella¬ tion so, daß zwei protestantische Mächte gegen zwei katholische den Kampf auf Leben und Tod unternahmen. Am 5. Juli 1756 wurde in Berlin der Ver¬ trag mit England abgeschlossen. In Dresden verzweigten sich alle Fäden der Verschwörung; dorthin rich¬ tete sich der erste Sturm. Am 28. August rückte Friedrich aus; am 9. Sep¬ tember zog er in Dresden ein, zwang am 15. Oktober die sächsische Armee zur Kapitulation und bezog dann seine Winterquartiere in Dresden. Sachsen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/255>, abgerufen am 19.10.2024.