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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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bin und nicht die Neigung fühle, das Judenthum gegen das Christenthum zu
vertheidigen. Ich bin keineswegs indifferent in Glaubenssachen, aber ich ver¬
trete mit aller Entschiedenheit die Ueberzeugung, daß die Literaturgeschichte
ebensowenig der Boden ist, um religiöse, wie um politische Streitigkeiten auszu-
fechten. Wer seine Leidenschaftlichkeit nicht soweit zügeln kann, daß sie nicht
die ruhige Erwägung der Thatsachen verwirrt und verdunkelt, der überlasse
das Werk,'der Geschichtschreibung andern Leuten. Für bestimmte Konfessionen
schreibt man weder Geschichte noch Literaturgeschichte. Durch solche unbefugte
Versuche kann die deutsche Geschichtschreibung allmählich um ihren edelsten
Ruhmestitel, den der Objektivität, gebracht werden.

Ich verkenne keineswegs den verderblichen Einfluß, welchen Heine, weniger
auf die Literatur seiner Zeit, als auf die der unsrigen ausgeübt hat. Ich
weiß, daß aus dem Boden, den er bereitet hat, jene Schmarotzerpflanzen er¬
wachsen find, welche die Feuilletons unserer großen und kleinen Zeitungen
mit dichtem Gestrüpp durchzogen haben, jene Gesellschaft rücksichtsloser Witz¬
bolde, die um den Preis eines "guten Witzes" ihren Bruder verrathen würden,
jene seichten Büchermacher, die ihre siebenmal in Zeitungen abgedruckten litera¬
rischen Nichtigkeiten alljährlich unter pikantem Titel und mit schreiend buntem
Umschlag zum achten Male in Buchform herausgeben. Ich verkenne keines¬
wegs den verderblichen, zersetzenden Einfluß, den diese aller Orten vertretene,
fest zusammenhaltende Clique auf die urtheilslose Menge ausübt. Jeder
Autoritätsglaube wird durch schonungsloser Spott und Hohn vernichtet, alles
Edle und Schöne wird mit Behagen in den Staub gezogen, und am Ende
aus den Trümmern ein Piedestal errichtet, auf dem der neue Herostrat im
Bewußtsein einer literarischen Mission thronen kann. Aber diese Erwägungen
halten mich keineswegs zurück, in Heinrich Heine den größten Lyriker des
neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, dem die zweite Stelle nach Goethe gebührt.
Die Sünden ungezogener Schüler darf man nicht an dem Lehrer heimsuchen,
der in seine Zeit reinigend wie ein Gewitter hineinfuhr. Die Kulturgeschichte
aller Zeiten hat sich in Strömungen und Gegenströmungen bewegt, die ein¬
ander diametral gegenüberstanden; sonst wäre die Kulturgeschichte niemals
weitergekommen. Statt uns diese Strömungen unbefangen zu schildern, wie es
Hettner für die Literaturgeschichte des achtzehnten und Brandes für die des
neunzehnten, jeder in seiner Weise meisterhaft, gethan haben, behelligen uns
Koenig und die Literarhistoriker seines Schlages mit einer auf rein individuellen
Empfindungen beruhenden Polemik. In der Beurtheilung Heine's stellt sich
Koenig ganz auf den Boden der christlichen Religion. Sein Standpunkt
charakterisirt sich darin als ein so einseitiger, so maßlos intoleranter, daß sich
jeder Jude, der das Buch zur Hand nimmt, auf das Tiefste verletzt fühlen


bin und nicht die Neigung fühle, das Judenthum gegen das Christenthum zu
vertheidigen. Ich bin keineswegs indifferent in Glaubenssachen, aber ich ver¬
trete mit aller Entschiedenheit die Ueberzeugung, daß die Literaturgeschichte
ebensowenig der Boden ist, um religiöse, wie um politische Streitigkeiten auszu-
fechten. Wer seine Leidenschaftlichkeit nicht soweit zügeln kann, daß sie nicht
die ruhige Erwägung der Thatsachen verwirrt und verdunkelt, der überlasse
das Werk,'der Geschichtschreibung andern Leuten. Für bestimmte Konfessionen
schreibt man weder Geschichte noch Literaturgeschichte. Durch solche unbefugte
Versuche kann die deutsche Geschichtschreibung allmählich um ihren edelsten
Ruhmestitel, den der Objektivität, gebracht werden.

Ich verkenne keineswegs den verderblichen Einfluß, welchen Heine, weniger
auf die Literatur seiner Zeit, als auf die der unsrigen ausgeübt hat. Ich
weiß, daß aus dem Boden, den er bereitet hat, jene Schmarotzerpflanzen er¬
wachsen find, welche die Feuilletons unserer großen und kleinen Zeitungen
mit dichtem Gestrüpp durchzogen haben, jene Gesellschaft rücksichtsloser Witz¬
bolde, die um den Preis eines „guten Witzes" ihren Bruder verrathen würden,
jene seichten Büchermacher, die ihre siebenmal in Zeitungen abgedruckten litera¬
rischen Nichtigkeiten alljährlich unter pikantem Titel und mit schreiend buntem
Umschlag zum achten Male in Buchform herausgeben. Ich verkenne keines¬
wegs den verderblichen, zersetzenden Einfluß, den diese aller Orten vertretene,
fest zusammenhaltende Clique auf die urtheilslose Menge ausübt. Jeder
Autoritätsglaube wird durch schonungsloser Spott und Hohn vernichtet, alles
Edle und Schöne wird mit Behagen in den Staub gezogen, und am Ende
aus den Trümmern ein Piedestal errichtet, auf dem der neue Herostrat im
Bewußtsein einer literarischen Mission thronen kann. Aber diese Erwägungen
halten mich keineswegs zurück, in Heinrich Heine den größten Lyriker des
neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, dem die zweite Stelle nach Goethe gebührt.
Die Sünden ungezogener Schüler darf man nicht an dem Lehrer heimsuchen,
der in seine Zeit reinigend wie ein Gewitter hineinfuhr. Die Kulturgeschichte
aller Zeiten hat sich in Strömungen und Gegenströmungen bewegt, die ein¬
ander diametral gegenüberstanden; sonst wäre die Kulturgeschichte niemals
weitergekommen. Statt uns diese Strömungen unbefangen zu schildern, wie es
Hettner für die Literaturgeschichte des achtzehnten und Brandes für die des
neunzehnten, jeder in seiner Weise meisterhaft, gethan haben, behelligen uns
Koenig und die Literarhistoriker seines Schlages mit einer auf rein individuellen
Empfindungen beruhenden Polemik. In der Beurtheilung Heine's stellt sich
Koenig ganz auf den Boden der christlichen Religion. Sein Standpunkt
charakterisirt sich darin als ein so einseitiger, so maßlos intoleranter, daß sich
jeder Jude, der das Buch zur Hand nimmt, auf das Tiefste verletzt fühlen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/242>, abgerufen am 20.10.2024.