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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" aber ist nur Lesern zu empfehlen,
deren Nervensystem auch gegen die ärgsten Trompetenstöße der ästhetischen
und politischen Phrase gefeit ist. Einem etwas nervösen Menschen summt der
Kopf, wenn er hinter einander ein Dutzend Seiten Gottschall'scher Prosa liest.
Ueberdies wahrt dieser Literaturhistoriker nicht den objektiven Standpunkt des
echten Geschichtschreibers. Nicht Jedermann wird die politische Meinung
theilen, welche den Verfasser, namentlich in den ersten Auflagen seines Werkes,
beseelte. Neuerdings hat sich freilich jenes Feuer, welches den Autor in jedem
Kapitel mindestens einmal zum Barrikadenbau hinriß, etwas abgekühlt.

Fast hätte ich Edmund Hoefer's "Deutsche Literaturgeschichte sür Frauen
und Jungfrauen" vergessen. Aber darf man ein Buch empfehlen, das, obgleich
es sich an eine so hehre Adresse wendet, ganz unbefangen seinen Leserinnen
die laseive Lektüre anpreist, welche der Verfasser des "Neuen Tanhciuser" zu
höchlichem Ergötzen gewisser hier nicht näher zu charakterisirender Kreise auf
den Büchermarkt geworfen hat?

Neuerdings sind nun wieder zwei Literaturgeschichten erschienen, die mich
im Verein mit jener oben zitirten Frage zu den nachstehenden Zeilen veran¬
laßt haben: Die "Deutsche Literaturgeschichte" von Robert Koenig") und
Karl Barthel's "Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit".**)
Das letztere Werk ist freilich bereits 1850 zum ersten Male erschienen. Da
aber der Verfasser drei Jahre darauf starb, wurde es in den späteren Auflagen
bis zur achten von seinem Bruder Emil herausgegeben, und jetzt ist die neunte
Auflage erschienen, bearbeitet und bis auf die unmittelbarste Gegenwart fort¬
geführt von Professor Dr. Georg Reinhard Röpe. Mithin darf man auch
dieses, vielfach in Familien eingebürgerte Buch in seiner jetzigen Gestalt als
^n neues betrachten.

Die Koenig'sche Literaturgeschichte präsentirt sich in einem Gewände, welches
^den Kunst- und Literaturfreund außerordentlich bestechen muß. Der Gedanke,
Proben aus berühmten Handschriften altdeutscher Werke, Faksimilekopieen von
drucken des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬
derts mitzutheilen, ist ein ebenso origineller wie glücklicher. Es wird Jedem
das höchste Interesse einflößen, ein Blatt aus dem Voäsx arKöntsus der Bibel¬
übersetzung des Ulfila in prächtiger Nachbildung durch den Farbendruck oder
das Wessobrunner Gebet in der Urschrift oder eine mit Miniatur geschmückte
Seite aus dem Marienleben Wernher's von Tegernsee zu sehen. Von nicht
geringerem Interesse sind die Nachbildungen alter Druckwerke, die getreu durch




*) Bielefeld und Leipzig 1379, Velhagcn und Klasing.
*) Gütersloh 1879, C, Bertelsmann-

ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" aber ist nur Lesern zu empfehlen,
deren Nervensystem auch gegen die ärgsten Trompetenstöße der ästhetischen
und politischen Phrase gefeit ist. Einem etwas nervösen Menschen summt der
Kopf, wenn er hinter einander ein Dutzend Seiten Gottschall'scher Prosa liest.
Ueberdies wahrt dieser Literaturhistoriker nicht den objektiven Standpunkt des
echten Geschichtschreibers. Nicht Jedermann wird die politische Meinung
theilen, welche den Verfasser, namentlich in den ersten Auflagen seines Werkes,
beseelte. Neuerdings hat sich freilich jenes Feuer, welches den Autor in jedem
Kapitel mindestens einmal zum Barrikadenbau hinriß, etwas abgekühlt.

Fast hätte ich Edmund Hoefer's „Deutsche Literaturgeschichte sür Frauen
und Jungfrauen" vergessen. Aber darf man ein Buch empfehlen, das, obgleich
es sich an eine so hehre Adresse wendet, ganz unbefangen seinen Leserinnen
die laseive Lektüre anpreist, welche der Verfasser des „Neuen Tanhciuser" zu
höchlichem Ergötzen gewisser hier nicht näher zu charakterisirender Kreise auf
den Büchermarkt geworfen hat?

Neuerdings sind nun wieder zwei Literaturgeschichten erschienen, die mich
im Verein mit jener oben zitirten Frage zu den nachstehenden Zeilen veran¬
laßt haben: Die „Deutsche Literaturgeschichte" von Robert Koenig") und
Karl Barthel's „Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit".**)
Das letztere Werk ist freilich bereits 1850 zum ersten Male erschienen. Da
aber der Verfasser drei Jahre darauf starb, wurde es in den späteren Auflagen
bis zur achten von seinem Bruder Emil herausgegeben, und jetzt ist die neunte
Auflage erschienen, bearbeitet und bis auf die unmittelbarste Gegenwart fort¬
geführt von Professor Dr. Georg Reinhard Röpe. Mithin darf man auch
dieses, vielfach in Familien eingebürgerte Buch in seiner jetzigen Gestalt als
^n neues betrachten.

Die Koenig'sche Literaturgeschichte präsentirt sich in einem Gewände, welches
^den Kunst- und Literaturfreund außerordentlich bestechen muß. Der Gedanke,
Proben aus berühmten Handschriften altdeutscher Werke, Faksimilekopieen von
drucken des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬
derts mitzutheilen, ist ein ebenso origineller wie glücklicher. Es wird Jedem
das höchste Interesse einflößen, ein Blatt aus dem Voäsx arKöntsus der Bibel¬
übersetzung des Ulfila in prächtiger Nachbildung durch den Farbendruck oder
das Wessobrunner Gebet in der Urschrift oder eine mit Miniatur geschmückte
Seite aus dem Marienleben Wernher's von Tegernsee zu sehen. Von nicht
geringerem Interesse sind die Nachbildungen alter Druckwerke, die getreu durch




*) Bielefeld und Leipzig 1379, Velhagcn und Klasing.
*) Gütersloh 1879, C, Bertelsmann-
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[0239] ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts" aber ist nur Lesern zu empfehlen, deren Nervensystem auch gegen die ärgsten Trompetenstöße der ästhetischen und politischen Phrase gefeit ist. Einem etwas nervösen Menschen summt der Kopf, wenn er hinter einander ein Dutzend Seiten Gottschall'scher Prosa liest. Ueberdies wahrt dieser Literaturhistoriker nicht den objektiven Standpunkt des echten Geschichtschreibers. Nicht Jedermann wird die politische Meinung theilen, welche den Verfasser, namentlich in den ersten Auflagen seines Werkes, beseelte. Neuerdings hat sich freilich jenes Feuer, welches den Autor in jedem Kapitel mindestens einmal zum Barrikadenbau hinriß, etwas abgekühlt. Fast hätte ich Edmund Hoefer's „Deutsche Literaturgeschichte sür Frauen und Jungfrauen" vergessen. Aber darf man ein Buch empfehlen, das, obgleich es sich an eine so hehre Adresse wendet, ganz unbefangen seinen Leserinnen die laseive Lektüre anpreist, welche der Verfasser des „Neuen Tanhciuser" zu höchlichem Ergötzen gewisser hier nicht näher zu charakterisirender Kreise auf den Büchermarkt geworfen hat? Neuerdings sind nun wieder zwei Literaturgeschichten erschienen, die mich im Verein mit jener oben zitirten Frage zu den nachstehenden Zeilen veran¬ laßt haben: Die „Deutsche Literaturgeschichte" von Robert Koenig") und Karl Barthel's „Vorlesungen über die deutsche Nationalliteratur der Neuzeit".**) Das letztere Werk ist freilich bereits 1850 zum ersten Male erschienen. Da aber der Verfasser drei Jahre darauf starb, wurde es in den späteren Auflagen bis zur achten von seinem Bruder Emil herausgegeben, und jetzt ist die neunte Auflage erschienen, bearbeitet und bis auf die unmittelbarste Gegenwart fort¬ geführt von Professor Dr. Georg Reinhard Röpe. Mithin darf man auch dieses, vielfach in Familien eingebürgerte Buch in seiner jetzigen Gestalt als ^n neues betrachten. Die Koenig'sche Literaturgeschichte präsentirt sich in einem Gewände, welches ^den Kunst- und Literaturfreund außerordentlich bestechen muß. Der Gedanke, Proben aus berühmten Handschriften altdeutscher Werke, Faksimilekopieen von drucken des fünfzehnten, sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhun¬ derts mitzutheilen, ist ein ebenso origineller wie glücklicher. Es wird Jedem das höchste Interesse einflößen, ein Blatt aus dem Voäsx arKöntsus der Bibel¬ übersetzung des Ulfila in prächtiger Nachbildung durch den Farbendruck oder das Wessobrunner Gebet in der Urschrift oder eine mit Miniatur geschmückte Seite aus dem Marienleben Wernher's von Tegernsee zu sehen. Von nicht geringerem Interesse sind die Nachbildungen alter Druckwerke, die getreu durch *) Bielefeld und Leipzig 1379, Velhagcn und Klasing. *) Gütersloh 1879, C, Bertelsmann-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/239>, abgerufen am 20.10.2024.