Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.immer den nämlichen Zielpunkt vor Angen hat, ihn bald trifft, bald verfehlt, Unabhängig von den naturphilosophischen Erklärungen Darwin's und Grenzboten II. 1379. Sy
immer den nämlichen Zielpunkt vor Angen hat, ihn bald trifft, bald verfehlt, Unabhängig von den naturphilosophischen Erklärungen Darwin's und Grenzboten II. 1379. Sy
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142188"/> <p xml:id="ID_648" prev="#ID_647"> immer den nämlichen Zielpunkt vor Angen hat, ihn bald trifft, bald verfehlt,<lb/> zuletzt aber doch feine Geschosse derart um das Zentrum seiner Zielscheibe an¬<lb/> gebracht hat, daß sie immer vereinzelter und seltener zu finden sind, je mehr<lb/> sich die Ringe auf der Scheibe erweitern."</p><lb/> <p xml:id="ID_649" next="#ID_650"> Unabhängig von den naturphilosophischen Erklärungen Darwin's und<lb/> seiner Nachfolger hat die deduktive Philosophie die Freiheit des menschlichen<lb/> Willens nicht als absolute, sondern als eine von allgemeinen Gesetzen abhängige<lb/> dargestellt; in Kant's blindem Geschick, in Montesquieu's, Herder's und Renan's<lb/> Prädispositionen und natürlichen Anordnungen wie in Hegel's Pantheismus<lb/> sind diese Gesetze, wie Molpurga richtig bemerkt, deutlich ausgesprochen. Die<lb/> neuere Philosophie, namentlich die große Geistesverirrung Schopenhauer's, hat<lb/> diese Wahrheiten vollständig verrückt. Bei allem Geist und Scharfsinn, bei<lb/> aller feinen Lebensbeobachtung ist der treibende Punkt von Schopenhauer's<lb/> ganzem System, sein schöpferischer „Wille", von vornherein ein psychologischer<lb/> Irrthum. Der menschliche Wille ist seinem innersten Wesen nach keine primi¬<lb/> tive und einfache Kraft; das Primitive ist die Erzeugerin des Willens, die<lb/> Vorstellung, das erste Zeugniß der Einheit unseres Bewußtseins, das aus dem<lb/> Chaos der Empfindungen, Wahrnehmungen und Triebe entspringt. Der Wille<lb/> ist die Freiheit^und der schöpferische Trieb; aber, losgelöst von den Schranken<lb/> der Natur, zerstört er sich selbst, wie Euphorion, der über die Berge nach der<lb/> Sonne fliegt und in den Abgrund stürzt. Die Vorstellung ist aber die Sphäre<lb/> der Gebundenheit; sie ist die Frucht des Landes, der Erziehung, der Kultur,<lb/> der besonderen Lebenserfahrung, sie ist das Faktum, das bestimmende Schicksal.<lb/> Ist sie auch das unabwendbare? Ist sie auch das, was zum großen und<lb/> guten Menschen oder zum Verbrecher macht? Diese Frage greift in unsere<lb/> obige Betrachtung ein. In unserm Plaidoyer entscheidet sich Molpurga für<lb/> den Richterspruch Stuart Mill's. Dieser erklärt sich dafür, daß das Gesetz<lb/> der Kausalität auch auf die menschlichen Handlungen ihre Anwendung finde;<lb/> doch ist er weit davon entfernt, in irgend einer Weise zuzugestehen, daß die<lb/> Lehre von der philosophischen Nothwendigkeit eine Wirkung des Fatums auf<lb/> den Willen des Menschen bedinge. So unbedingt meint dies Stuart Mill<lb/> offenbar nicht; eine Wirkung auf den Willen muß er zugestehen; aber diese<lb/> Wirkung ist ihm keine unabwendbare. Die Nothwendigkeit, auf den Willen<lb/> bezogen, „bedeutet nur so viel, daß auf die gegebene Ursache die Wirkung in<lb/> der Weise erfolgt, daß sie allen Möglichkeiten ausgesetzt ist, vou anderen Ur¬<lb/> sachen aufgehoben zu werden". Diese anderen Ursachen liegen nnn allerdings<lb/> nicht in dem Willen, als einem einzelnen Akte innerlicher Entschließung, sondern<lb/> in seinem Urgründe, dem Charakter des Menschen. Wo ein solcher nicht ge¬<lb/> bildet ist, wird auch der gute Wille ein Kind der Laune bleiben und nicht</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1379. Sy</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0233]
immer den nämlichen Zielpunkt vor Angen hat, ihn bald trifft, bald verfehlt,
zuletzt aber doch feine Geschosse derart um das Zentrum seiner Zielscheibe an¬
gebracht hat, daß sie immer vereinzelter und seltener zu finden sind, je mehr
sich die Ringe auf der Scheibe erweitern."
Unabhängig von den naturphilosophischen Erklärungen Darwin's und
seiner Nachfolger hat die deduktive Philosophie die Freiheit des menschlichen
Willens nicht als absolute, sondern als eine von allgemeinen Gesetzen abhängige
dargestellt; in Kant's blindem Geschick, in Montesquieu's, Herder's und Renan's
Prädispositionen und natürlichen Anordnungen wie in Hegel's Pantheismus
sind diese Gesetze, wie Molpurga richtig bemerkt, deutlich ausgesprochen. Die
neuere Philosophie, namentlich die große Geistesverirrung Schopenhauer's, hat
diese Wahrheiten vollständig verrückt. Bei allem Geist und Scharfsinn, bei
aller feinen Lebensbeobachtung ist der treibende Punkt von Schopenhauer's
ganzem System, sein schöpferischer „Wille", von vornherein ein psychologischer
Irrthum. Der menschliche Wille ist seinem innersten Wesen nach keine primi¬
tive und einfache Kraft; das Primitive ist die Erzeugerin des Willens, die
Vorstellung, das erste Zeugniß der Einheit unseres Bewußtseins, das aus dem
Chaos der Empfindungen, Wahrnehmungen und Triebe entspringt. Der Wille
ist die Freiheit^und der schöpferische Trieb; aber, losgelöst von den Schranken
der Natur, zerstört er sich selbst, wie Euphorion, der über die Berge nach der
Sonne fliegt und in den Abgrund stürzt. Die Vorstellung ist aber die Sphäre
der Gebundenheit; sie ist die Frucht des Landes, der Erziehung, der Kultur,
der besonderen Lebenserfahrung, sie ist das Faktum, das bestimmende Schicksal.
Ist sie auch das unabwendbare? Ist sie auch das, was zum großen und
guten Menschen oder zum Verbrecher macht? Diese Frage greift in unsere
obige Betrachtung ein. In unserm Plaidoyer entscheidet sich Molpurga für
den Richterspruch Stuart Mill's. Dieser erklärt sich dafür, daß das Gesetz
der Kausalität auch auf die menschlichen Handlungen ihre Anwendung finde;
doch ist er weit davon entfernt, in irgend einer Weise zuzugestehen, daß die
Lehre von der philosophischen Nothwendigkeit eine Wirkung des Fatums auf
den Willen des Menschen bedinge. So unbedingt meint dies Stuart Mill
offenbar nicht; eine Wirkung auf den Willen muß er zugestehen; aber diese
Wirkung ist ihm keine unabwendbare. Die Nothwendigkeit, auf den Willen
bezogen, „bedeutet nur so viel, daß auf die gegebene Ursache die Wirkung in
der Weise erfolgt, daß sie allen Möglichkeiten ausgesetzt ist, vou anderen Ur¬
sachen aufgehoben zu werden". Diese anderen Ursachen liegen nnn allerdings
nicht in dem Willen, als einem einzelnen Akte innerlicher Entschließung, sondern
in seinem Urgründe, dem Charakter des Menschen. Wo ein solcher nicht ge¬
bildet ist, wird auch der gute Wille ein Kind der Laune bleiben und nicht
Grenzboten II. 1379. Sy
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