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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Eine sichere Finanzpolitik wäre weder im Reiche noch in den Einzelstaaten
möglich. Man sieht also deutlich, wie dieser unlogische Gedanke nicht aus
den Anforderungen der Sache erwachsen ist, sondern aus der Aussicht, an der
Seite des Zentrums ein erfolgreiches Manöver ausführen zu können. Die
Künstler, welche dieses Manöver ausgedacht, sind traurige Patrioten und
traurige Strategen. Die Rechnung auf das Zentrum kann gewaltig trügen,
der moralische Schaden aber, der aus diesem Plan erwächst, selbst wenn er
nicht über den Versuch hinauskommt, kann unermeßlich sein. Mögen die Abge¬
ordneten, deren Stimmen in der national-liberalen Fraktion Gewicht haben,
auf der Hut sein für die Zukunft ihrer Partei. Daß man übrigens diesem
periodischen Einnahme-Bewilligungsrecht des Reichstages auch eine harmlose
Gestalt geben kann, welche der national-liberalen Partei von dem jetzt unvor¬
sichtig betretenen Weg einen leidlichen Rückzug läßt, wollen wir schon heute
anzudeuten nicht unterlassen. Davon vielleicht im nächsten Briefe mehr.




Literatur.
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. Von Gottfried Semper.
Zweite Auflage. In Lieferungen. München, Bruckmcinn, 1878.

Die moderne, vom besten Erfolge gekrönte Bewegung zur Verbesserung
der Kunstgewerbe und der Kunst-Industrie Deutschland's ist im Wesentlichen
das Verdienst von Theoretikern. Zwei große literarische Werke sind es vor
Allem, welche diese tiefgehende und nachhaltige Bewegung angeregt und in die
richtige Bahn geleitet haben: Carl Bötticher's "Tektonik der Hellenen" und
Gottfried Semper's Werk "Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten".
Ganz unabhängig von einander entstanden, unternahmen es beide, vor dreißig
Jahren zum ersten Male mit Nachdruck auf den innigen Zusammenhang
zwischen Kunst und Technik hinzuweisen und in das wahre Verständniß der
gewerblichen Kunstwerke alter Zeit, die sie als mustergiltig auch für unsere
Tage bezeichneten, einzuführen. Beide fanden, wie alles Bedeutende, anfangs
nur in wenigen Kreisen Beachtuug; die Meisten verstanden sie nicht, ließen sie
unbeachtet oder bekämpften sie. Und in der That war das Verständniß dieser
Werke nicht leicht. Das System, welches diese Männer aufgestellt, erschien
vollständig neu und stand in direktem Gegensatz zu den allgemein als richtig
erkannten Grundsätzen; die Sprache, deren sie sich bedienten, war schwerfällig;


Eine sichere Finanzpolitik wäre weder im Reiche noch in den Einzelstaaten
möglich. Man sieht also deutlich, wie dieser unlogische Gedanke nicht aus
den Anforderungen der Sache erwachsen ist, sondern aus der Aussicht, an der
Seite des Zentrums ein erfolgreiches Manöver ausführen zu können. Die
Künstler, welche dieses Manöver ausgedacht, sind traurige Patrioten und
traurige Strategen. Die Rechnung auf das Zentrum kann gewaltig trügen,
der moralische Schaden aber, der aus diesem Plan erwächst, selbst wenn er
nicht über den Versuch hinauskommt, kann unermeßlich sein. Mögen die Abge¬
ordneten, deren Stimmen in der national-liberalen Fraktion Gewicht haben,
auf der Hut sein für die Zukunft ihrer Partei. Daß man übrigens diesem
periodischen Einnahme-Bewilligungsrecht des Reichstages auch eine harmlose
Gestalt geben kann, welche der national-liberalen Partei von dem jetzt unvor¬
sichtig betretenen Weg einen leidlichen Rückzug läßt, wollen wir schon heute
anzudeuten nicht unterlassen. Davon vielleicht im nächsten Briefe mehr.




Literatur.
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten. Von Gottfried Semper.
Zweite Auflage. In Lieferungen. München, Bruckmcinn, 1878.

Die moderne, vom besten Erfolge gekrönte Bewegung zur Verbesserung
der Kunstgewerbe und der Kunst-Industrie Deutschland's ist im Wesentlichen
das Verdienst von Theoretikern. Zwei große literarische Werke sind es vor
Allem, welche diese tiefgehende und nachhaltige Bewegung angeregt und in die
richtige Bahn geleitet haben: Carl Bötticher's „Tektonik der Hellenen" und
Gottfried Semper's Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten".
Ganz unabhängig von einander entstanden, unternahmen es beide, vor dreißig
Jahren zum ersten Male mit Nachdruck auf den innigen Zusammenhang
zwischen Kunst und Technik hinzuweisen und in das wahre Verständniß der
gewerblichen Kunstwerke alter Zeit, die sie als mustergiltig auch für unsere
Tage bezeichneten, einzuführen. Beide fanden, wie alles Bedeutende, anfangs
nur in wenigen Kreisen Beachtuug; die Meisten verstanden sie nicht, ließen sie
unbeachtet oder bekämpften sie. Und in der That war das Verständniß dieser
Werke nicht leicht. Das System, welches diese Männer aufgestellt, erschien
vollständig neu und stand in direktem Gegensatz zu den allgemein als richtig
erkannten Grundsätzen; die Sprache, deren sie sich bedienten, war schwerfällig;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/205>, abgerufen am 27.12.2024.