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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Möglichkeit einer normalen Entwickelung der Menschheit neue Stützpunkte
darbietet.

Wir halten daher daran fest: das Böse stammt ausschließlich aus der
Freiheit, es ist kein Schicksal, dem der Mensch nicht entgehen könnte, es ist
seine That, für die er verantwortlich ist. So müssen wir über das Böse
urtheilen, wenn wir sein Entstehen in der Menschheit in das Auge fassen.
Anders erscheint es uns allerdings, wenn wir, nachdem das Böse geschichtliche
Wirklichkeit geworden ist, die Beziehung des Individuums zu demselben zu
begreifen suchen. Wenn wir die einzelne sittliche Selbstentscheidung des Menschen
als ein für sein inneres Sein indifferentes, nur flüchtige Spuren hinterlassendes
Thun betrachten dürften, wenn wir ferner die sittliche Richtung, die der Einzelne
einschlägt, als ein die menschliche Gemeinschaft, ihren sittlichen Werth nicht,
oder doch wenig berührendes Ereigniß ansehen könnten, müßten wir freilich
anders urtheilen. Aber weder dies noch jenes ist der Fall. Jede That, die
unter die Norm des Sittengesetzes fällt, übt einen Einfluß auf unsern sitt¬
lichen Gesammtzustand aus; wir sind nachher nicht mehr dieselben wie vorher.
War unsere Handlung der sittlichen Idee entsprechend, haben wir in ihr diese
prinzipiell, wenn auch dies letztere unbewußt, bejaht, so hat unsere Gesinnung
eine Richtung auf das Gute erhalten, die das Ausüben desselben für die fol¬
gende Zeit erleichtert. Auf der andern Seite: war unsere Handlung der sitt¬
lichen Idee widersprechend, haben wir in ihr dieselbe prinzipiell, wenn auch
dies letztere unbewußt, verneint, so hat unsere Gesinnung eine Richtung vom
Guten weg auf das Böse hin erhalten, welche für die folgende Zeit die Aus¬
übung jenes erschwert, die Vollbringung dieses erleichtert.

Aber noch weiter müssen wir die Spuren unseres Thuns für das sittliche
Leben verfolgen; ist dieses doch nicht zu verstehen, ohne daß wir den Zusam¬
menhang uns vergegenwärtigen, in dem es sich mit unserm gesummten Sein,
dem geistigen und dem sinnlichen, befindet. Hier stellt sich uns jedoch eine
Aufgabe, die sich nur erledigen läßt, indem wir das Wesen des Bösen begrifflich
bestimmen.

Die Erkenntniß des Bösen ist an die Erkenntniß des Guten geknüpft, als
dessen Widerspruch es sich bildet. Hat das Gute zu seinem Inhalt die Unter¬
ordnung des selbstischen unter das Allgemeine, so das Böse die Unterordnung
des Allgemeinen unter das Selbstische. Die entgegengesetzte Stellung dieser
beiden Mächte bringt die Differenz zwischen dem Guten und Bösen hervor.
Aber diese Differenz kann nicht auf die ethische Sphäre beschränkt bleiben, sie
ist von metaphysischer Bedeutung. Denn die Verwirklichung des Guten ist die
Bedingung für die Organisirung, für die harmonische Ausgestaltung des mensch¬
lichen Lebens; die Ausübung des Bösen ist Hemmung dieses Prozesses, Des-


Möglichkeit einer normalen Entwickelung der Menschheit neue Stützpunkte
darbietet.

Wir halten daher daran fest: das Böse stammt ausschließlich aus der
Freiheit, es ist kein Schicksal, dem der Mensch nicht entgehen könnte, es ist
seine That, für die er verantwortlich ist. So müssen wir über das Böse
urtheilen, wenn wir sein Entstehen in der Menschheit in das Auge fassen.
Anders erscheint es uns allerdings, wenn wir, nachdem das Böse geschichtliche
Wirklichkeit geworden ist, die Beziehung des Individuums zu demselben zu
begreifen suchen. Wenn wir die einzelne sittliche Selbstentscheidung des Menschen
als ein für sein inneres Sein indifferentes, nur flüchtige Spuren hinterlassendes
Thun betrachten dürften, wenn wir ferner die sittliche Richtung, die der Einzelne
einschlägt, als ein die menschliche Gemeinschaft, ihren sittlichen Werth nicht,
oder doch wenig berührendes Ereigniß ansehen könnten, müßten wir freilich
anders urtheilen. Aber weder dies noch jenes ist der Fall. Jede That, die
unter die Norm des Sittengesetzes fällt, übt einen Einfluß auf unsern sitt¬
lichen Gesammtzustand aus; wir sind nachher nicht mehr dieselben wie vorher.
War unsere Handlung der sittlichen Idee entsprechend, haben wir in ihr diese
prinzipiell, wenn auch dies letztere unbewußt, bejaht, so hat unsere Gesinnung
eine Richtung auf das Gute erhalten, die das Ausüben desselben für die fol¬
gende Zeit erleichtert. Auf der andern Seite: war unsere Handlung der sitt¬
lichen Idee widersprechend, haben wir in ihr dieselbe prinzipiell, wenn auch
dies letztere unbewußt, verneint, so hat unsere Gesinnung eine Richtung vom
Guten weg auf das Böse hin erhalten, welche für die folgende Zeit die Aus¬
übung jenes erschwert, die Vollbringung dieses erleichtert.

Aber noch weiter müssen wir die Spuren unseres Thuns für das sittliche
Leben verfolgen; ist dieses doch nicht zu verstehen, ohne daß wir den Zusam¬
menhang uns vergegenwärtigen, in dem es sich mit unserm gesummten Sein,
dem geistigen und dem sinnlichen, befindet. Hier stellt sich uns jedoch eine
Aufgabe, die sich nur erledigen läßt, indem wir das Wesen des Bösen begrifflich
bestimmen.

Die Erkenntniß des Bösen ist an die Erkenntniß des Guten geknüpft, als
dessen Widerspruch es sich bildet. Hat das Gute zu seinem Inhalt die Unter¬
ordnung des selbstischen unter das Allgemeine, so das Böse die Unterordnung
des Allgemeinen unter das Selbstische. Die entgegengesetzte Stellung dieser
beiden Mächte bringt die Differenz zwischen dem Guten und Bösen hervor.
Aber diese Differenz kann nicht auf die ethische Sphäre beschränkt bleiben, sie
ist von metaphysischer Bedeutung. Denn die Verwirklichung des Guten ist die
Bedingung für die Organisirung, für die harmonische Ausgestaltung des mensch¬
lichen Lebens; die Ausübung des Bösen ist Hemmung dieses Prozesses, Des-


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[0187] Möglichkeit einer normalen Entwickelung der Menschheit neue Stützpunkte darbietet. Wir halten daher daran fest: das Böse stammt ausschließlich aus der Freiheit, es ist kein Schicksal, dem der Mensch nicht entgehen könnte, es ist seine That, für die er verantwortlich ist. So müssen wir über das Böse urtheilen, wenn wir sein Entstehen in der Menschheit in das Auge fassen. Anders erscheint es uns allerdings, wenn wir, nachdem das Böse geschichtliche Wirklichkeit geworden ist, die Beziehung des Individuums zu demselben zu begreifen suchen. Wenn wir die einzelne sittliche Selbstentscheidung des Menschen als ein für sein inneres Sein indifferentes, nur flüchtige Spuren hinterlassendes Thun betrachten dürften, wenn wir ferner die sittliche Richtung, die der Einzelne einschlägt, als ein die menschliche Gemeinschaft, ihren sittlichen Werth nicht, oder doch wenig berührendes Ereigniß ansehen könnten, müßten wir freilich anders urtheilen. Aber weder dies noch jenes ist der Fall. Jede That, die unter die Norm des Sittengesetzes fällt, übt einen Einfluß auf unsern sitt¬ lichen Gesammtzustand aus; wir sind nachher nicht mehr dieselben wie vorher. War unsere Handlung der sittlichen Idee entsprechend, haben wir in ihr diese prinzipiell, wenn auch dies letztere unbewußt, bejaht, so hat unsere Gesinnung eine Richtung auf das Gute erhalten, die das Ausüben desselben für die fol¬ gende Zeit erleichtert. Auf der andern Seite: war unsere Handlung der sitt¬ lichen Idee widersprechend, haben wir in ihr dieselbe prinzipiell, wenn auch dies letztere unbewußt, verneint, so hat unsere Gesinnung eine Richtung vom Guten weg auf das Böse hin erhalten, welche für die folgende Zeit die Aus¬ übung jenes erschwert, die Vollbringung dieses erleichtert. Aber noch weiter müssen wir die Spuren unseres Thuns für das sittliche Leben verfolgen; ist dieses doch nicht zu verstehen, ohne daß wir den Zusam¬ menhang uns vergegenwärtigen, in dem es sich mit unserm gesummten Sein, dem geistigen und dem sinnlichen, befindet. Hier stellt sich uns jedoch eine Aufgabe, die sich nur erledigen läßt, indem wir das Wesen des Bösen begrifflich bestimmen. Die Erkenntniß des Bösen ist an die Erkenntniß des Guten geknüpft, als dessen Widerspruch es sich bildet. Hat das Gute zu seinem Inhalt die Unter¬ ordnung des selbstischen unter das Allgemeine, so das Böse die Unterordnung des Allgemeinen unter das Selbstische. Die entgegengesetzte Stellung dieser beiden Mächte bringt die Differenz zwischen dem Guten und Bösen hervor. Aber diese Differenz kann nicht auf die ethische Sphäre beschränkt bleiben, sie ist von metaphysischer Bedeutung. Denn die Verwirklichung des Guten ist die Bedingung für die Organisirung, für die harmonische Ausgestaltung des mensch¬ lichen Lebens; die Ausübung des Bösen ist Hemmung dieses Prozesses, Des-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/187>, abgerufen am 28.12.2024.