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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Wirklichkeit? Der theoretische Irrthum ist vermeidlich, denn das erkennende
Subjekt ist nicht genöthigt, die vorhandenen Schranken des Erkennens zu über¬
schreiten; aber wie, wenn die Pflicht des Handelns vorliegt, und die Sphäre
desselben ein noch nicht erkanntes Gebiet bildet, wenn der Nichtwissende handeln
muß? Hier ist ein irrthümliches, fehlerhaftes Handeln unvermeidlich; aber es
ist auch klar, daß dasselbe in keiner Hinsicht unter den Begriff des Bösen fällt.

Wir kommen also zu dem Endergebniß, daß auch die Bedingungen, an
welche die menschliche Entwickelung geknüpft ist, uns nicht zu der Annahme
berechtigen, das Böse habe, wenn auch nur als Durchgangspunkt, geschichtliche
Wirklichkeit werden müssen. Und das wird uns um so begreiflicher erscheinen,
wenn wir die Autorität in's Auge fassen, welche das Sittengesetz begleitet, und
welche sich unmittelbar dem Bewußtsein bezeugt. Diese Autorität ist eine un¬
bedingte und versetzt in vollkommene Abhängigkeit. Man kann ihr den Gehorsam
versagen, aber auch so wird ihre uneingeschränkte Hoheit gefühlt. Wir haben
ihr gegenüber ein religiöses Verhältniß; noch mehr, in der Beziehung zu ihr
liegen die Wurzeln der Religion. Im Sittengesetz offenbart sich Gott als der
Absolute, und die populäre Bezeichnung des Gewissens als der Stimme Gottes
hat metaphysische Wahrheit.

In der sichtbaren Natur thut sich uns die Macht Gottes kund; aber erst,
wenn die Natur als Einheit erkannt ist, begreifen wir diese Macht als eine
und deshalb unbedingte. Zugleich ist hier die Stätte, an welcher sich die
göttliche Weisheit enthüllt; aber welcher langen Entwickelungen bedarf es, um
die Zweckmäßigkeit der Organisation im irdischen Dasein wahrzunehmen, und
wieviel Lücken werden hier immer unausgefüllt, wieviel Widersprüche unbehelligt
bleiben! Im Sittengesetz dagegen erscheint uns Gott als das oder richtiger als
der absolut Gute und zugleich als Macht und Weisheit; als Macht vermöge
der Gewalt, die das Sittengesetz über uns ausübt, als Weisheit, weil dasselbe
die harmonische Regulirung des menschlichen Lebens vermittelt.

Ist auf diesem Boden das Gottesbewußtsein, die Religion, gepflanzt, dann
ist die Möglichkeit gegeben, unmittelbar auch in der äußeren Welt einen Spiegel
göttlicher Gedanken zu erkennen, noch bevor die eingehende Untersuchung der¬
selben das Recht dazu verliehen hat. Denn im Sittengesetz tritt der Gegensatz
eines unbedingt Bedingenden und eines unbedingt Bedingten in das Bewußt¬
sein, und wenn sich der Mensch nach allen seinen Beziehungen einem Absoluten
untergeordnet weiß, so muß er auch die Welt außer ihm, die er nach der
Analogie mit sich beurtheilen darf, weil er sich mit ihr zu einem Ganzen
verflochten weiß, als von derselben Autorität abhängig voraussetzen. Es liegt
auf der Hand, daß die religiöse Gestaltung der Beziehung zum Sittengesetz
und die dadurch vermittelte religiöse Auffassung der wirklichen Welt für die


Wirklichkeit? Der theoretische Irrthum ist vermeidlich, denn das erkennende
Subjekt ist nicht genöthigt, die vorhandenen Schranken des Erkennens zu über¬
schreiten; aber wie, wenn die Pflicht des Handelns vorliegt, und die Sphäre
desselben ein noch nicht erkanntes Gebiet bildet, wenn der Nichtwissende handeln
muß? Hier ist ein irrthümliches, fehlerhaftes Handeln unvermeidlich; aber es
ist auch klar, daß dasselbe in keiner Hinsicht unter den Begriff des Bösen fällt.

Wir kommen also zu dem Endergebniß, daß auch die Bedingungen, an
welche die menschliche Entwickelung geknüpft ist, uns nicht zu der Annahme
berechtigen, das Böse habe, wenn auch nur als Durchgangspunkt, geschichtliche
Wirklichkeit werden müssen. Und das wird uns um so begreiflicher erscheinen,
wenn wir die Autorität in's Auge fassen, welche das Sittengesetz begleitet, und
welche sich unmittelbar dem Bewußtsein bezeugt. Diese Autorität ist eine un¬
bedingte und versetzt in vollkommene Abhängigkeit. Man kann ihr den Gehorsam
versagen, aber auch so wird ihre uneingeschränkte Hoheit gefühlt. Wir haben
ihr gegenüber ein religiöses Verhältniß; noch mehr, in der Beziehung zu ihr
liegen die Wurzeln der Religion. Im Sittengesetz offenbart sich Gott als der
Absolute, und die populäre Bezeichnung des Gewissens als der Stimme Gottes
hat metaphysische Wahrheit.

In der sichtbaren Natur thut sich uns die Macht Gottes kund; aber erst,
wenn die Natur als Einheit erkannt ist, begreifen wir diese Macht als eine
und deshalb unbedingte. Zugleich ist hier die Stätte, an welcher sich die
göttliche Weisheit enthüllt; aber welcher langen Entwickelungen bedarf es, um
die Zweckmäßigkeit der Organisation im irdischen Dasein wahrzunehmen, und
wieviel Lücken werden hier immer unausgefüllt, wieviel Widersprüche unbehelligt
bleiben! Im Sittengesetz dagegen erscheint uns Gott als das oder richtiger als
der absolut Gute und zugleich als Macht und Weisheit; als Macht vermöge
der Gewalt, die das Sittengesetz über uns ausübt, als Weisheit, weil dasselbe
die harmonische Regulirung des menschlichen Lebens vermittelt.

Ist auf diesem Boden das Gottesbewußtsein, die Religion, gepflanzt, dann
ist die Möglichkeit gegeben, unmittelbar auch in der äußeren Welt einen Spiegel
göttlicher Gedanken zu erkennen, noch bevor die eingehende Untersuchung der¬
selben das Recht dazu verliehen hat. Denn im Sittengesetz tritt der Gegensatz
eines unbedingt Bedingenden und eines unbedingt Bedingten in das Bewußt¬
sein, und wenn sich der Mensch nach allen seinen Beziehungen einem Absoluten
untergeordnet weiß, so muß er auch die Welt außer ihm, die er nach der
Analogie mit sich beurtheilen darf, weil er sich mit ihr zu einem Ganzen
verflochten weiß, als von derselben Autorität abhängig voraussetzen. Es liegt
auf der Hand, daß die religiöse Gestaltung der Beziehung zum Sittengesetz
und die dadurch vermittelte religiöse Auffassung der wirklichen Welt für die


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[0186] Wirklichkeit? Der theoretische Irrthum ist vermeidlich, denn das erkennende Subjekt ist nicht genöthigt, die vorhandenen Schranken des Erkennens zu über¬ schreiten; aber wie, wenn die Pflicht des Handelns vorliegt, und die Sphäre desselben ein noch nicht erkanntes Gebiet bildet, wenn der Nichtwissende handeln muß? Hier ist ein irrthümliches, fehlerhaftes Handeln unvermeidlich; aber es ist auch klar, daß dasselbe in keiner Hinsicht unter den Begriff des Bösen fällt. Wir kommen also zu dem Endergebniß, daß auch die Bedingungen, an welche die menschliche Entwickelung geknüpft ist, uns nicht zu der Annahme berechtigen, das Böse habe, wenn auch nur als Durchgangspunkt, geschichtliche Wirklichkeit werden müssen. Und das wird uns um so begreiflicher erscheinen, wenn wir die Autorität in's Auge fassen, welche das Sittengesetz begleitet, und welche sich unmittelbar dem Bewußtsein bezeugt. Diese Autorität ist eine un¬ bedingte und versetzt in vollkommene Abhängigkeit. Man kann ihr den Gehorsam versagen, aber auch so wird ihre uneingeschränkte Hoheit gefühlt. Wir haben ihr gegenüber ein religiöses Verhältniß; noch mehr, in der Beziehung zu ihr liegen die Wurzeln der Religion. Im Sittengesetz offenbart sich Gott als der Absolute, und die populäre Bezeichnung des Gewissens als der Stimme Gottes hat metaphysische Wahrheit. In der sichtbaren Natur thut sich uns die Macht Gottes kund; aber erst, wenn die Natur als Einheit erkannt ist, begreifen wir diese Macht als eine und deshalb unbedingte. Zugleich ist hier die Stätte, an welcher sich die göttliche Weisheit enthüllt; aber welcher langen Entwickelungen bedarf es, um die Zweckmäßigkeit der Organisation im irdischen Dasein wahrzunehmen, und wieviel Lücken werden hier immer unausgefüllt, wieviel Widersprüche unbehelligt bleiben! Im Sittengesetz dagegen erscheint uns Gott als das oder richtiger als der absolut Gute und zugleich als Macht und Weisheit; als Macht vermöge der Gewalt, die das Sittengesetz über uns ausübt, als Weisheit, weil dasselbe die harmonische Regulirung des menschlichen Lebens vermittelt. Ist auf diesem Boden das Gottesbewußtsein, die Religion, gepflanzt, dann ist die Möglichkeit gegeben, unmittelbar auch in der äußeren Welt einen Spiegel göttlicher Gedanken zu erkennen, noch bevor die eingehende Untersuchung der¬ selben das Recht dazu verliehen hat. Denn im Sittengesetz tritt der Gegensatz eines unbedingt Bedingenden und eines unbedingt Bedingten in das Bewußt¬ sein, und wenn sich der Mensch nach allen seinen Beziehungen einem Absoluten untergeordnet weiß, so muß er auch die Welt außer ihm, die er nach der Analogie mit sich beurtheilen darf, weil er sich mit ihr zu einem Ganzen verflochten weiß, als von derselben Autorität abhängig voraussetzen. Es liegt auf der Hand, daß die religiöse Gestaltung der Beziehung zum Sittengesetz und die dadurch vermittelte religiöse Auffassung der wirklichen Welt für die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/186>, abgerufen am 27.09.2024.