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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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und das Ganze in allem Einzelnen. Jede Erscheinung und alle besonderen
Kundgebungen derselben sind Bethätigungen von Kräften, die einem unüber-
schreitbaren Gesetze folgen.

Wie empfiehlt sich ein solches System einer Zeit, welche den unbestreitbaren
Vorzug besitzt, Zufall und Willkür aus ihrer Gesammtauffassung der Welt
entfernt und sie auf Regel und Ordnung begründet zu haben! Aber die Stärke
des Pantheismus ist auch seine Schwäche. Die Einheit des Systems ist theuer
erkauft, der Begriff des Zwecks und der Freiheit ist verloren gegangen. Das
sittliche Leben erscheint nur als eine höhere Form des Naturlebens, und in
Folge dessen verwandelt sich der sittliche Gegensatz von Gut und Böse in den
physischen Gegensatz von Kraft und Ohnmacht, von Gesundheit und Krankheit;
die Persönlichkeit des Menschen stellt nur eine vergängliche Gestalt des All¬
lebens dar, die in jenes zurückgenommen wird; ein schöpferischer, vorsehungsvoll
waltender Gott, der eins ist mit der Idee des Guten, hat hier keine Stelle, er
wird zum unbewußten Urgründe der Dinge oder zum Prozeß der Weltent-
wickelung herabgesetzt.

Aber muß dieser Verlust nicht einer Zeit als Gewinn erscheinen, die, wie
sehr sie sich auch auszeichnet durch die erfolgreichste Bearbeitung der sichtbaren
Welt, doch arm ist an sittlichen Idealen und jener sittlichen Energie entbehrt,
die sich hingebend nach ihnen ausstreckt?

Der Einfluß des Pantheismus ist auch da wahrnehmbar, wo er als
System abgelehnt, vielleicht mit Entrüstung abgelehnt wird. Blicken wir in
unsere belletristische Literatur, wie häufig drängt sich uns da die Beobachtung
auf, daß die Verfasser von der Voraussetzung sich leiten lassen, das Thun und
Lassen der Menschen sei nichts anderes als das nothwendige Ergebniß der so
oder so gearteten Persönlichkeit und das Bewußtsein der Freiheit nur ein
leerer Schein.

Es liegt auf der Hand, daß eine solche Beurtheilungsweise unserer Hand¬
lungen sittlich entnervend, ja demoralisirend wirken muß; daß der, welcher ein¬
mal dahintergekommen ist, daß unsere Freiheit nur eine Selbsttäuschung, ein
Wahngebilde ist, seinen Neigungen und Trieben keinen Widerstand entgegen¬
setzen, sondern willig ihnen Folge leisten wird.

Es gibt freilich eine Ueberspannung des Freiheitsbegriffes, die der Er¬
fahrung widerstreitet, und der wir nicht das Wort reden möchten. Zweifellos
sind wir nicht in der Lage, unser sittliches Sein als eine unbeschriebene Tafel
anzusehen, auf die wir nach unbedingt freier Wahl diese oder jene Zeichen
auftragen könnten; vielmehr finden wir beim Erwachen des sittlichen Bewußt¬
seins dieses schon als bestimmt und keineswegs nur als normal bestimmt vor.
Wir treten ein geschichtliches Erbe auch in sittlicher Beziehung an. Die Orga-


und das Ganze in allem Einzelnen. Jede Erscheinung und alle besonderen
Kundgebungen derselben sind Bethätigungen von Kräften, die einem unüber-
schreitbaren Gesetze folgen.

Wie empfiehlt sich ein solches System einer Zeit, welche den unbestreitbaren
Vorzug besitzt, Zufall und Willkür aus ihrer Gesammtauffassung der Welt
entfernt und sie auf Regel und Ordnung begründet zu haben! Aber die Stärke
des Pantheismus ist auch seine Schwäche. Die Einheit des Systems ist theuer
erkauft, der Begriff des Zwecks und der Freiheit ist verloren gegangen. Das
sittliche Leben erscheint nur als eine höhere Form des Naturlebens, und in
Folge dessen verwandelt sich der sittliche Gegensatz von Gut und Böse in den
physischen Gegensatz von Kraft und Ohnmacht, von Gesundheit und Krankheit;
die Persönlichkeit des Menschen stellt nur eine vergängliche Gestalt des All¬
lebens dar, die in jenes zurückgenommen wird; ein schöpferischer, vorsehungsvoll
waltender Gott, der eins ist mit der Idee des Guten, hat hier keine Stelle, er
wird zum unbewußten Urgründe der Dinge oder zum Prozeß der Weltent-
wickelung herabgesetzt.

Aber muß dieser Verlust nicht einer Zeit als Gewinn erscheinen, die, wie
sehr sie sich auch auszeichnet durch die erfolgreichste Bearbeitung der sichtbaren
Welt, doch arm ist an sittlichen Idealen und jener sittlichen Energie entbehrt,
die sich hingebend nach ihnen ausstreckt?

Der Einfluß des Pantheismus ist auch da wahrnehmbar, wo er als
System abgelehnt, vielleicht mit Entrüstung abgelehnt wird. Blicken wir in
unsere belletristische Literatur, wie häufig drängt sich uns da die Beobachtung
auf, daß die Verfasser von der Voraussetzung sich leiten lassen, das Thun und
Lassen der Menschen sei nichts anderes als das nothwendige Ergebniß der so
oder so gearteten Persönlichkeit und das Bewußtsein der Freiheit nur ein
leerer Schein.

Es liegt auf der Hand, daß eine solche Beurtheilungsweise unserer Hand¬
lungen sittlich entnervend, ja demoralisirend wirken muß; daß der, welcher ein¬
mal dahintergekommen ist, daß unsere Freiheit nur eine Selbsttäuschung, ein
Wahngebilde ist, seinen Neigungen und Trieben keinen Widerstand entgegen¬
setzen, sondern willig ihnen Folge leisten wird.

Es gibt freilich eine Ueberspannung des Freiheitsbegriffes, die der Er¬
fahrung widerstreitet, und der wir nicht das Wort reden möchten. Zweifellos
sind wir nicht in der Lage, unser sittliches Sein als eine unbeschriebene Tafel
anzusehen, auf die wir nach unbedingt freier Wahl diese oder jene Zeichen
auftragen könnten; vielmehr finden wir beim Erwachen des sittlichen Bewußt¬
seins dieses schon als bestimmt und keineswegs nur als normal bestimmt vor.
Wir treten ein geschichtliches Erbe auch in sittlicher Beziehung an. Die Orga-


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[0178] und das Ganze in allem Einzelnen. Jede Erscheinung und alle besonderen Kundgebungen derselben sind Bethätigungen von Kräften, die einem unüber- schreitbaren Gesetze folgen. Wie empfiehlt sich ein solches System einer Zeit, welche den unbestreitbaren Vorzug besitzt, Zufall und Willkür aus ihrer Gesammtauffassung der Welt entfernt und sie auf Regel und Ordnung begründet zu haben! Aber die Stärke des Pantheismus ist auch seine Schwäche. Die Einheit des Systems ist theuer erkauft, der Begriff des Zwecks und der Freiheit ist verloren gegangen. Das sittliche Leben erscheint nur als eine höhere Form des Naturlebens, und in Folge dessen verwandelt sich der sittliche Gegensatz von Gut und Böse in den physischen Gegensatz von Kraft und Ohnmacht, von Gesundheit und Krankheit; die Persönlichkeit des Menschen stellt nur eine vergängliche Gestalt des All¬ lebens dar, die in jenes zurückgenommen wird; ein schöpferischer, vorsehungsvoll waltender Gott, der eins ist mit der Idee des Guten, hat hier keine Stelle, er wird zum unbewußten Urgründe der Dinge oder zum Prozeß der Weltent- wickelung herabgesetzt. Aber muß dieser Verlust nicht einer Zeit als Gewinn erscheinen, die, wie sehr sie sich auch auszeichnet durch die erfolgreichste Bearbeitung der sichtbaren Welt, doch arm ist an sittlichen Idealen und jener sittlichen Energie entbehrt, die sich hingebend nach ihnen ausstreckt? Der Einfluß des Pantheismus ist auch da wahrnehmbar, wo er als System abgelehnt, vielleicht mit Entrüstung abgelehnt wird. Blicken wir in unsere belletristische Literatur, wie häufig drängt sich uns da die Beobachtung auf, daß die Verfasser von der Voraussetzung sich leiten lassen, das Thun und Lassen der Menschen sei nichts anderes als das nothwendige Ergebniß der so oder so gearteten Persönlichkeit und das Bewußtsein der Freiheit nur ein leerer Schein. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Beurtheilungsweise unserer Hand¬ lungen sittlich entnervend, ja demoralisirend wirken muß; daß der, welcher ein¬ mal dahintergekommen ist, daß unsere Freiheit nur eine Selbsttäuschung, ein Wahngebilde ist, seinen Neigungen und Trieben keinen Widerstand entgegen¬ setzen, sondern willig ihnen Folge leisten wird. Es gibt freilich eine Ueberspannung des Freiheitsbegriffes, die der Er¬ fahrung widerstreitet, und der wir nicht das Wort reden möchten. Zweifellos sind wir nicht in der Lage, unser sittliches Sein als eine unbeschriebene Tafel anzusehen, auf die wir nach unbedingt freier Wahl diese oder jene Zeichen auftragen könnten; vielmehr finden wir beim Erwachen des sittlichen Bewußt¬ seins dieses schon als bestimmt und keineswegs nur als normal bestimmt vor. Wir treten ein geschichtliches Erbe auch in sittlicher Beziehung an. Die Orga-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/178>, abgerufen am 27.12.2024.