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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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bedürfen jedenfalls der Erwähnung. Dahin gehören vor allem die Getreidezölle.
Durch den Wegfall der früheren Getreidezölle in Verbindung mit der Er¬
weiterung der Eisenbahnnetze und den zu Gunsten der ausländischen Produktion
eingeführten Differentialtarifen ist das massenhafte Einströmen fremden Getreides
zur Regel geworden. Galizien, Polen, Ungarn, Rumänien, das südliche Ru߬
land, sogar die Türkei und Amerika, fast ausschließlich Länder mit noch un¬
begrenzter Produktionsfähigkeit und geringen Produktionskosten, überschütten
mit ihren Bodenerzeugnissen gerade diejenigen Märkte, welche bisher die Haupt¬
absatzgebiete der deutschen Landwirthschaft waren. Erwägt man, daß die
Produktionskosten in Deutschland seit zehn Jahren in demselben Maße ge¬
stiegen, wie die Getreidepreise durch das Angebot aus billiger produzirenden
Gegenden gefallen sind, daß ferner ungefähr gleichzeitig mit der Aufhebung der
Getreidezölle der inländische Grundbesitz mit 10 bis 14 Prozent seines Ertrages
durch Staatsanflagen belastet worden, zu welchen noch die Kommunalzuschläge
in fortwährend steigender Höhe hinzukommen, so wird es erklärlich, daß der
Getreidebau seit den sechziger Jahren in Deutschland wesentlich zurückgegangen
ist. In Preußen hat die bebaute Ackerfläche seit jener Zeit um 8 Prozent
der Gesammtackerfläche des Staates abgenommen, in Bayern um 90830 Hektare.
Es wird nicht mehr so viel Getreide produzirt, als produzirt werden könnte,
wenn gegenüber der ausländischen Konkurrenz die Garantie eines größeren Ab¬
satzes vorhanden wäre. Zahlreiche Pächter und kleine Besitzer haben ihre Wirth¬
schaften aufgeben müssen. Die Ertragsfähigkeit der Grundstücke ist in Folge
der zahlreichen Subhastationen vermindert, und dem Acker werden ans Mangel
an Mitteln nur ungenügend die nothwendigen Düngstoffe zugeführt. Die
Ernteerträge sind daher vielfach fast um 20 Prozent heruntergegangen. Die
Gefahr liegt nahe, daß Deutschland bei fortschreitender Entwertung von Grund
und Boden hinsichtlich seiner Ernährungsverhältnisse vollständig abhängig
vom Auslande wird. Da nun Mißernten in Ländern wie Rußland, Rumänien,
Amerika häufiger, und wenn sie eintreten, allgemeiner sind als bei uns, so
würden dieselben unter Umständen eine vollständige Stockung der Zufuhr
hervorrufen können. Die gleiche Wirkung könnte ein Krieg oder eine Blokade
haben. Auf der anderen Seite wäre ein Aufhören der inländischen Getreide¬
produktion gleichbedeutend mit der Zahlungseinstellung des größten Theiles
aller Landwirthe, und in Folge dessen mit einem Zusammenbruch unseres ganzen
Kreditsystemes. Die vorgeschlagenen Getreidezölle kommen nun im Vergleich zu
den gewöhnlichen Preisschwankuugeu gar nicht in Betracht, aber sie versprechen
gleichwohl, der einheimischen Landwirthschaft wenigstens nach einer Richtung zur
Hilfe zu kommen. Denn Deutschland ist durch die absolute Freiheit der
Getreideeinfuhr der Ablagerungsplatz für die Ueberproduktion anderer Länder


bedürfen jedenfalls der Erwähnung. Dahin gehören vor allem die Getreidezölle.
Durch den Wegfall der früheren Getreidezölle in Verbindung mit der Er¬
weiterung der Eisenbahnnetze und den zu Gunsten der ausländischen Produktion
eingeführten Differentialtarifen ist das massenhafte Einströmen fremden Getreides
zur Regel geworden. Galizien, Polen, Ungarn, Rumänien, das südliche Ru߬
land, sogar die Türkei und Amerika, fast ausschließlich Länder mit noch un¬
begrenzter Produktionsfähigkeit und geringen Produktionskosten, überschütten
mit ihren Bodenerzeugnissen gerade diejenigen Märkte, welche bisher die Haupt¬
absatzgebiete der deutschen Landwirthschaft waren. Erwägt man, daß die
Produktionskosten in Deutschland seit zehn Jahren in demselben Maße ge¬
stiegen, wie die Getreidepreise durch das Angebot aus billiger produzirenden
Gegenden gefallen sind, daß ferner ungefähr gleichzeitig mit der Aufhebung der
Getreidezölle der inländische Grundbesitz mit 10 bis 14 Prozent seines Ertrages
durch Staatsanflagen belastet worden, zu welchen noch die Kommunalzuschläge
in fortwährend steigender Höhe hinzukommen, so wird es erklärlich, daß der
Getreidebau seit den sechziger Jahren in Deutschland wesentlich zurückgegangen
ist. In Preußen hat die bebaute Ackerfläche seit jener Zeit um 8 Prozent
der Gesammtackerfläche des Staates abgenommen, in Bayern um 90830 Hektare.
Es wird nicht mehr so viel Getreide produzirt, als produzirt werden könnte,
wenn gegenüber der ausländischen Konkurrenz die Garantie eines größeren Ab¬
satzes vorhanden wäre. Zahlreiche Pächter und kleine Besitzer haben ihre Wirth¬
schaften aufgeben müssen. Die Ertragsfähigkeit der Grundstücke ist in Folge
der zahlreichen Subhastationen vermindert, und dem Acker werden ans Mangel
an Mitteln nur ungenügend die nothwendigen Düngstoffe zugeführt. Die
Ernteerträge sind daher vielfach fast um 20 Prozent heruntergegangen. Die
Gefahr liegt nahe, daß Deutschland bei fortschreitender Entwertung von Grund
und Boden hinsichtlich seiner Ernährungsverhältnisse vollständig abhängig
vom Auslande wird. Da nun Mißernten in Ländern wie Rußland, Rumänien,
Amerika häufiger, und wenn sie eintreten, allgemeiner sind als bei uns, so
würden dieselben unter Umständen eine vollständige Stockung der Zufuhr
hervorrufen können. Die gleiche Wirkung könnte ein Krieg oder eine Blokade
haben. Auf der anderen Seite wäre ein Aufhören der inländischen Getreide¬
produktion gleichbedeutend mit der Zahlungseinstellung des größten Theiles
aller Landwirthe, und in Folge dessen mit einem Zusammenbruch unseres ganzen
Kreditsystemes. Die vorgeschlagenen Getreidezölle kommen nun im Vergleich zu
den gewöhnlichen Preisschwankuugeu gar nicht in Betracht, aber sie versprechen
gleichwohl, der einheimischen Landwirthschaft wenigstens nach einer Richtung zur
Hilfe zu kommen. Denn Deutschland ist durch die absolute Freiheit der
Getreideeinfuhr der Ablagerungsplatz für die Ueberproduktion anderer Länder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/166>, abgerufen am 27.09.2024.