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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Theater drängt sich allabendlich eine Menge, die im Durchschnitt auf 2000
Köpfe täglich anzuschlagen ist!

Auf einer ähnlich abschüssigen Bahn haben sich die übrigen Volks-'
theater bewegt. Die klassischen Bestrebungen wurden schon nach Ablauf eines
Jahres über Bord geworfen, und gegenwärtig wird in diesen Mnsentempeln
dem Publikum eine sinnen- und nervenerregende geistige Kost geboten, die am
Ende ebenso verderblich wirkt wie der sittenloseste Tingeltangel. Wenn noch
ab und zu ein klassisches Drama aufgeführt wird, so gleicht eine solche Auf¬
führung einer Hinrichtung, von welcher Musen und Grazien schaudernd ihr
Haupt abwenden. So hat denn die Theaterfreiheit nicht blos den Geschmack
des Publikums in Grund und Boden verdorben, sie hat auch, was in seinen
materiellen Folgen vielleicht noch trauriger ist, ein Schauspieler-Proletariat
herangezogen, welches an die schlimmsten Zeiten der Stegreifkomödie und der
wandernden Komödianten erinnert. Als im Sommer 1869 aller Orten die
Volksbühnen wie Pilze aus der Erde schössen, und die Nachfrage von Tag zu
Tag wuchs, warf jeder kunstbegeisterte Barbiergehilfe das Schaumbecken bei
Seite und widmete sich der dramatischen Kunst. Mit dem Einbruch des wirth¬
schaftlichen Rückganges, der selbstverständlich von größtem Einfluß auf den
Verfall der neu entstandenen Theater gewesen ist, wurde ein großer Theil dieser
Stegreifkomödianten brodlos, und da diese Mimen schon zu viel von dem süßen
Schaum des Bühnenlebens gekostet hatten, um wieder zu ihrer ehrenwerthen,
bürgerlichen Beschäftigung zurückzukehren, ist allgemach über sie wie über höher
talentirte Kunstgenossen, die ohne ihr direktes Verschulden in die allgemeine
Katastrophe gezogen wurden, eine Misere hereingebrochen, die sich jeder Schil¬
derung entzieht. Was die dramatische Kunst unter solchen Verhältnissen ge¬
winnt, bedarf keiner näheren Beleuchtung. Die Geschichte dieser kleinen Volks¬
theater ist eine Reihe von Katastrophen. Eine Direktion weicht, meist ohne
ihre Verbindlichkeiten gelöst zu haben, der anderen, und eine jede hat natürlich
ihre eigenen Ansichten über die "Hebung der dramatischen Kunst".

Zu den Knnstinstituten, welche der Theaterfreiheit ihr Dasein verdanken,
gehört auch das Stadttheater, eine Schaubühne, die sich vermöge ihrer
^age in einem volkreichen, vorwiegend von Beamten bewohnten Stadttheile,
durch weise Führung und Pflege des Repertoires ein verläßliches Stamm-
Publikum hätte schaffen können. Als aber diese Möglichkeit noch vorhanden
war, das heißt in den ersten siebziger Jahren, waren gute schauspielerische
Kräfte so theuer, daß sich die Direktion auf so gewagte Spekulationen nicht ein¬
lassen konnte. Und als die Zeit des wirthschaftlichen Rückganges begann, als
der Theaterbesuch spärlicher wurde, als Jeder für sein Geld nur das Beste
sehen wollte, sah sich die Leitung dieser Bühne veranlaßt, ihre Zuflucht zu


Theater drängt sich allabendlich eine Menge, die im Durchschnitt auf 2000
Köpfe täglich anzuschlagen ist!

Auf einer ähnlich abschüssigen Bahn haben sich die übrigen Volks-'
theater bewegt. Die klassischen Bestrebungen wurden schon nach Ablauf eines
Jahres über Bord geworfen, und gegenwärtig wird in diesen Mnsentempeln
dem Publikum eine sinnen- und nervenerregende geistige Kost geboten, die am
Ende ebenso verderblich wirkt wie der sittenloseste Tingeltangel. Wenn noch
ab und zu ein klassisches Drama aufgeführt wird, so gleicht eine solche Auf¬
führung einer Hinrichtung, von welcher Musen und Grazien schaudernd ihr
Haupt abwenden. So hat denn die Theaterfreiheit nicht blos den Geschmack
des Publikums in Grund und Boden verdorben, sie hat auch, was in seinen
materiellen Folgen vielleicht noch trauriger ist, ein Schauspieler-Proletariat
herangezogen, welches an die schlimmsten Zeiten der Stegreifkomödie und der
wandernden Komödianten erinnert. Als im Sommer 1869 aller Orten die
Volksbühnen wie Pilze aus der Erde schössen, und die Nachfrage von Tag zu
Tag wuchs, warf jeder kunstbegeisterte Barbiergehilfe das Schaumbecken bei
Seite und widmete sich der dramatischen Kunst. Mit dem Einbruch des wirth¬
schaftlichen Rückganges, der selbstverständlich von größtem Einfluß auf den
Verfall der neu entstandenen Theater gewesen ist, wurde ein großer Theil dieser
Stegreifkomödianten brodlos, und da diese Mimen schon zu viel von dem süßen
Schaum des Bühnenlebens gekostet hatten, um wieder zu ihrer ehrenwerthen,
bürgerlichen Beschäftigung zurückzukehren, ist allgemach über sie wie über höher
talentirte Kunstgenossen, die ohne ihr direktes Verschulden in die allgemeine
Katastrophe gezogen wurden, eine Misere hereingebrochen, die sich jeder Schil¬
derung entzieht. Was die dramatische Kunst unter solchen Verhältnissen ge¬
winnt, bedarf keiner näheren Beleuchtung. Die Geschichte dieser kleinen Volks¬
theater ist eine Reihe von Katastrophen. Eine Direktion weicht, meist ohne
ihre Verbindlichkeiten gelöst zu haben, der anderen, und eine jede hat natürlich
ihre eigenen Ansichten über die „Hebung der dramatischen Kunst".

Zu den Knnstinstituten, welche der Theaterfreiheit ihr Dasein verdanken,
gehört auch das Stadttheater, eine Schaubühne, die sich vermöge ihrer
^age in einem volkreichen, vorwiegend von Beamten bewohnten Stadttheile,
durch weise Führung und Pflege des Repertoires ein verläßliches Stamm-
Publikum hätte schaffen können. Als aber diese Möglichkeit noch vorhanden
war, das heißt in den ersten siebziger Jahren, waren gute schauspielerische
Kräfte so theuer, daß sich die Direktion auf so gewagte Spekulationen nicht ein¬
lassen konnte. Und als die Zeit des wirthschaftlichen Rückganges begann, als
der Theaterbesuch spärlicher wurde, als Jeder für sein Geld nur das Beste
sehen wollte, sah sich die Leitung dieser Bühne veranlaßt, ihre Zuflucht zu


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[0153] Theater drängt sich allabendlich eine Menge, die im Durchschnitt auf 2000 Köpfe täglich anzuschlagen ist! Auf einer ähnlich abschüssigen Bahn haben sich die übrigen Volks-' theater bewegt. Die klassischen Bestrebungen wurden schon nach Ablauf eines Jahres über Bord geworfen, und gegenwärtig wird in diesen Mnsentempeln dem Publikum eine sinnen- und nervenerregende geistige Kost geboten, die am Ende ebenso verderblich wirkt wie der sittenloseste Tingeltangel. Wenn noch ab und zu ein klassisches Drama aufgeführt wird, so gleicht eine solche Auf¬ führung einer Hinrichtung, von welcher Musen und Grazien schaudernd ihr Haupt abwenden. So hat denn die Theaterfreiheit nicht blos den Geschmack des Publikums in Grund und Boden verdorben, sie hat auch, was in seinen materiellen Folgen vielleicht noch trauriger ist, ein Schauspieler-Proletariat herangezogen, welches an die schlimmsten Zeiten der Stegreifkomödie und der wandernden Komödianten erinnert. Als im Sommer 1869 aller Orten die Volksbühnen wie Pilze aus der Erde schössen, und die Nachfrage von Tag zu Tag wuchs, warf jeder kunstbegeisterte Barbiergehilfe das Schaumbecken bei Seite und widmete sich der dramatischen Kunst. Mit dem Einbruch des wirth¬ schaftlichen Rückganges, der selbstverständlich von größtem Einfluß auf den Verfall der neu entstandenen Theater gewesen ist, wurde ein großer Theil dieser Stegreifkomödianten brodlos, und da diese Mimen schon zu viel von dem süßen Schaum des Bühnenlebens gekostet hatten, um wieder zu ihrer ehrenwerthen, bürgerlichen Beschäftigung zurückzukehren, ist allgemach über sie wie über höher talentirte Kunstgenossen, die ohne ihr direktes Verschulden in die allgemeine Katastrophe gezogen wurden, eine Misere hereingebrochen, die sich jeder Schil¬ derung entzieht. Was die dramatische Kunst unter solchen Verhältnissen ge¬ winnt, bedarf keiner näheren Beleuchtung. Die Geschichte dieser kleinen Volks¬ theater ist eine Reihe von Katastrophen. Eine Direktion weicht, meist ohne ihre Verbindlichkeiten gelöst zu haben, der anderen, und eine jede hat natürlich ihre eigenen Ansichten über die „Hebung der dramatischen Kunst". Zu den Knnstinstituten, welche der Theaterfreiheit ihr Dasein verdanken, gehört auch das Stadttheater, eine Schaubühne, die sich vermöge ihrer ^age in einem volkreichen, vorwiegend von Beamten bewohnten Stadttheile, durch weise Führung und Pflege des Repertoires ein verläßliches Stamm- Publikum hätte schaffen können. Als aber diese Möglichkeit noch vorhanden war, das heißt in den ersten siebziger Jahren, waren gute schauspielerische Kräfte so theuer, daß sich die Direktion auf so gewagte Spekulationen nicht ein¬ lassen konnte. Und als die Zeit des wirthschaftlichen Rückganges begann, als der Theaterbesuch spärlicher wurde, als Jeder für sein Geld nur das Beste sehen wollte, sah sich die Leitung dieser Bühne veranlaßt, ihre Zuflucht zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/153>, abgerufen am 27.09.2024.