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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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in welchen Momenten soll ich mich hierauf untersuchen? Ist nicht dieses Ge-
sammtgefühl bedingt durch psychische Zustände des gegenwärtigen Momentes
und mein in irgend einem Momente gegebenes Urtheil über die Summe
meines Lebens ein sehr trügerisches, das vielleicht meine glücklichsten Lebens¬
perioden fahrlässig ignorirt. unterschätzt, oder etwa die unglücklichsten in momen¬
taner Freude vergißt? Jetzt wende ich mich an die fremden Aussagen. Aber wie
Wenige kann ich abhören? Und die Wenigen, wer sind sie, in welchen Stim¬
mungen sprachen sie? Ist es nicht dem Menschen eigen, viel von seinen schlimmen,
wenig von seinen glücklichen Erlebnissen zu reden, jene renommistisch zu steigern,
diese nur obenhin zuzugestehen und leicht zu vergessen? Schließlich: was ist
in diesen Dingen überhaupt Thatbestand? Die Auffassung, das Hegen eines
Gefühles in Gedanken, die fortwährend auf bestimmte Gefühle gerichtete Ab¬
sicht, sie bringen selbst zu gutem Theile erst das Gefühl hervor. Fast nur
starke sinnliche Schmerzen und große Seelenaffekte, durch ungewöhnliche Schick¬
sale oder mächtige Leidenschaften erregt, sind hiervon ausgenommen. Doch
lassen wir auch eine genügende Unterlage von Thatsachen gegeben sein, und
sehen zu, wie das induktive Verfahren sich ihrer bemächtigen werde. Mögen
wir gefunden haben, daß die meisten Menschen aller oder der meisten Gene¬
rationen in den meisten Lebensmomenten zumeist unglücklich waren oder sich
doch so geberdeten: was macht der exakte Empiriker Hartmann mit der von
ihm doch selbst zugestandenen Minorität? Nach den Gesetzen der Induktion
bildet sie eine Gegeninstanz, die es unmöglich macht, den in der Mehrheit der
Fälle beobachteten Thatbestand zu einem allgemeinen Gesetze zu verwerthen.
Vielmehr beweisen die Minoritätsfälle -- von welchen wir unsererseits übrigens
bis zur besseren Beweisführung glauben, daß sie die Majorität seien --, daß
generell das menschliche Leben nicht eine Qual ist, sondern die Möglichkeit des
Gegentheils zuläßt. Die induktive Methode gebietet ferner, durch Experiment
alle Mittel zu erschöpfen, um Gegeninstanzen hervorzulocken; das hieße in
unserem Falle alle Mittel erschöpfen, um Menschen glücklich zu machen. In
jedem Momente, in dem dies uns gelingt, an uns und an Anderen, lernen
wir von Neuem, daß das Leben keine Qual sei, und lernen die wahren Quellen
des Glückes kennen. Ist denn nun die bisherige Menschengeschichte hinreichend
gewesen, um alle Quellen zu versuchen? Wie groß konnte denn unser
Beobachtungsfeld sein? Wir beobachteten und experimentirten in einem ver¬
schwindenden Momente der unendlichen Zeit, an einem verschwindenden Punkte
des unendlichen Weltalls. Dennoch fanden wir zahllose Wege der Erzeu¬
gung intensivsten Glückes, durch Hegung und Austausch liebender Zuneigung,
durch liebreiche Opferthat, durch Pflichtgefühl, Größe der Kraftentfaltung,
durch poetisches Erfassen und nachfühlen von Natur und Leben, durch Reu-


in welchen Momenten soll ich mich hierauf untersuchen? Ist nicht dieses Ge-
sammtgefühl bedingt durch psychische Zustände des gegenwärtigen Momentes
und mein in irgend einem Momente gegebenes Urtheil über die Summe
meines Lebens ein sehr trügerisches, das vielleicht meine glücklichsten Lebens¬
perioden fahrlässig ignorirt. unterschätzt, oder etwa die unglücklichsten in momen¬
taner Freude vergißt? Jetzt wende ich mich an die fremden Aussagen. Aber wie
Wenige kann ich abhören? Und die Wenigen, wer sind sie, in welchen Stim¬
mungen sprachen sie? Ist es nicht dem Menschen eigen, viel von seinen schlimmen,
wenig von seinen glücklichen Erlebnissen zu reden, jene renommistisch zu steigern,
diese nur obenhin zuzugestehen und leicht zu vergessen? Schließlich: was ist
in diesen Dingen überhaupt Thatbestand? Die Auffassung, das Hegen eines
Gefühles in Gedanken, die fortwährend auf bestimmte Gefühle gerichtete Ab¬
sicht, sie bringen selbst zu gutem Theile erst das Gefühl hervor. Fast nur
starke sinnliche Schmerzen und große Seelenaffekte, durch ungewöhnliche Schick¬
sale oder mächtige Leidenschaften erregt, sind hiervon ausgenommen. Doch
lassen wir auch eine genügende Unterlage von Thatsachen gegeben sein, und
sehen zu, wie das induktive Verfahren sich ihrer bemächtigen werde. Mögen
wir gefunden haben, daß die meisten Menschen aller oder der meisten Gene¬
rationen in den meisten Lebensmomenten zumeist unglücklich waren oder sich
doch so geberdeten: was macht der exakte Empiriker Hartmann mit der von
ihm doch selbst zugestandenen Minorität? Nach den Gesetzen der Induktion
bildet sie eine Gegeninstanz, die es unmöglich macht, den in der Mehrheit der
Fälle beobachteten Thatbestand zu einem allgemeinen Gesetze zu verwerthen.
Vielmehr beweisen die Minoritätsfälle — von welchen wir unsererseits übrigens
bis zur besseren Beweisführung glauben, daß sie die Majorität seien —, daß
generell das menschliche Leben nicht eine Qual ist, sondern die Möglichkeit des
Gegentheils zuläßt. Die induktive Methode gebietet ferner, durch Experiment
alle Mittel zu erschöpfen, um Gegeninstanzen hervorzulocken; das hieße in
unserem Falle alle Mittel erschöpfen, um Menschen glücklich zu machen. In
jedem Momente, in dem dies uns gelingt, an uns und an Anderen, lernen
wir von Neuem, daß das Leben keine Qual sei, und lernen die wahren Quellen
des Glückes kennen. Ist denn nun die bisherige Menschengeschichte hinreichend
gewesen, um alle Quellen zu versuchen? Wie groß konnte denn unser
Beobachtungsfeld sein? Wir beobachteten und experimentirten in einem ver¬
schwindenden Momente der unendlichen Zeit, an einem verschwindenden Punkte
des unendlichen Weltalls. Dennoch fanden wir zahllose Wege der Erzeu¬
gung intensivsten Glückes, durch Hegung und Austausch liebender Zuneigung,
durch liebreiche Opferthat, durch Pflichtgefühl, Größe der Kraftentfaltung,
durch poetisches Erfassen und nachfühlen von Natur und Leben, durch Reu-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/111>, abgerufen am 27.09.2024.