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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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er sich mit großem Eifer, Sie gingen mit ihm, den sie sehr liebten, ohne
Unterkleid und ohne Schuhe, wie Reine Kyniker im Philvsophenmäntelchen,
sittsam, schweigend und in sich gekehrt. Xeniades selbst äußerte oft, daß mit
Diogenes ein guter Geist in sein Haus gezogen sei.

Auch ein neues Kynosarges schuf sich Diogenes in Korinth: das Kraneion,
in der schönsten Vorstadt, wo unter hohen, schattigen Bäumen die niever¬
siegende Quelle Peirene floß. Hier lehrte Diogenes im Gymnasion, hier hatte
er mit Alexander von Makedonien die bekannte Unterredung.

Sein eigenes Beispiel und den mündlichen Vortrag seiner Rede hielt
Diogenes für das eigentliche Mittel seiner Lehre. Als Hegesias ihn um eine
seiner Schriften bat, antwortete er ihm, es sei verwunderlich, daß er nach ge¬
malten Früchten verlange, da er natürliche haben könne. Von seinen Schriften
ist uns nichts überliefert worden. Nach der Eigenart seines Naturells ist
aber wohl sicher anzunehmen, daß seine philosophischen Erörterungen sich nicht
durch Tiefe der Spekulation und durch Höhe des Ideenfluges ausgezeichnet
haben werden, fondern vielmehr durch Meuschen- und Weltkenntniß, prak¬
tischen Verstand und kernigen, scharfgewürzten, chrieenhaften Vortrag. Der inter¬
essanteste und würdigste Gegenstand für seine Betrachtung war ihm der Mensch.
Bekannt ist sein Ausspruch: "Wenn ich auch nur schön thue mit der Weisheit
(Sophia), so Philosophire ich schon." Seine Ethik ging blos darauf aus, das
Gute im Meuschen zu kräftigen, das Böse in ihm möglichst auszuhungern und
das menschliche Bewußtsein den Göttern zu öffnen. Sein Grundsatz war, man
müsse so leben, als ob man vor Jedermanns Augen lebte, denn sich selbst habe
ein Jeder am meisten zu fürchten. Das Gewissen war ihm das durch Wissen
erleuchtete Gemüth und zugleich die Grundlage der Wahrhaftigkeit, kraft deren
der Wille beim Handeln keine andere Richtschnur kennt, als die Ueberzeugung,
sich unumwunden und rückhaltlos zu dem zu bekennen, was man als wahr
erkannt hat.

Durch rücksichtslose Bekämpfung der falschen Scham schreckte er sich
manchen Schüler zurück. Als Einer, der sich seiner Lehre zugewendet hatte,
von ihm aufgefordert wurde, ihm einen Häring am Schwänze nachzutragen,
dieser aber ob der ihm lächerlich erscheinenden Zumuthung den Fisch unwillig
auf die Erde warf, hob Diogenes denselben mit den Worten auf: "El sieh,
Alterchen, da hast du mich ja um einen Zuhörer gebracht."

Diogenes war unter den Griechen der Erste, der sich einen Kosmopoliten
nannte. Patriotismus war ihm so fremd wie im Allgemeinen das Verlangen,
etwas für sich zu besitzen. Die Volksredner verachtete er als Volkslakaien;
besonders ergrimmt war er auf Demosthenes, den er einen "Demagogen"
nannte. Geld verwarf er, ebenso die Ehe, von der er sagte, wenn man jung


Grenzboten I. 1879. 12

er sich mit großem Eifer, Sie gingen mit ihm, den sie sehr liebten, ohne
Unterkleid und ohne Schuhe, wie Reine Kyniker im Philvsophenmäntelchen,
sittsam, schweigend und in sich gekehrt. Xeniades selbst äußerte oft, daß mit
Diogenes ein guter Geist in sein Haus gezogen sei.

Auch ein neues Kynosarges schuf sich Diogenes in Korinth: das Kraneion,
in der schönsten Vorstadt, wo unter hohen, schattigen Bäumen die niever¬
siegende Quelle Peirene floß. Hier lehrte Diogenes im Gymnasion, hier hatte
er mit Alexander von Makedonien die bekannte Unterredung.

Sein eigenes Beispiel und den mündlichen Vortrag seiner Rede hielt
Diogenes für das eigentliche Mittel seiner Lehre. Als Hegesias ihn um eine
seiner Schriften bat, antwortete er ihm, es sei verwunderlich, daß er nach ge¬
malten Früchten verlange, da er natürliche haben könne. Von seinen Schriften
ist uns nichts überliefert worden. Nach der Eigenart seines Naturells ist
aber wohl sicher anzunehmen, daß seine philosophischen Erörterungen sich nicht
durch Tiefe der Spekulation und durch Höhe des Ideenfluges ausgezeichnet
haben werden, fondern vielmehr durch Meuschen- und Weltkenntniß, prak¬
tischen Verstand und kernigen, scharfgewürzten, chrieenhaften Vortrag. Der inter¬
essanteste und würdigste Gegenstand für seine Betrachtung war ihm der Mensch.
Bekannt ist sein Ausspruch: „Wenn ich auch nur schön thue mit der Weisheit
(Sophia), so Philosophire ich schon." Seine Ethik ging blos darauf aus, das
Gute im Meuschen zu kräftigen, das Böse in ihm möglichst auszuhungern und
das menschliche Bewußtsein den Göttern zu öffnen. Sein Grundsatz war, man
müsse so leben, als ob man vor Jedermanns Augen lebte, denn sich selbst habe
ein Jeder am meisten zu fürchten. Das Gewissen war ihm das durch Wissen
erleuchtete Gemüth und zugleich die Grundlage der Wahrhaftigkeit, kraft deren
der Wille beim Handeln keine andere Richtschnur kennt, als die Ueberzeugung,
sich unumwunden und rückhaltlos zu dem zu bekennen, was man als wahr
erkannt hat.

Durch rücksichtslose Bekämpfung der falschen Scham schreckte er sich
manchen Schüler zurück. Als Einer, der sich seiner Lehre zugewendet hatte,
von ihm aufgefordert wurde, ihm einen Häring am Schwänze nachzutragen,
dieser aber ob der ihm lächerlich erscheinenden Zumuthung den Fisch unwillig
auf die Erde warf, hob Diogenes denselben mit den Worten auf: „El sieh,
Alterchen, da hast du mich ja um einen Zuhörer gebracht."

Diogenes war unter den Griechen der Erste, der sich einen Kosmopoliten
nannte. Patriotismus war ihm so fremd wie im Allgemeinen das Verlangen,
etwas für sich zu besitzen. Die Volksredner verachtete er als Volkslakaien;
besonders ergrimmt war er auf Demosthenes, den er einen „Demagogen"
nannte. Geld verwarf er, ebenso die Ehe, von der er sagte, wenn man jung


Grenzboten I. 1879. 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/97>, abgerufen am 24.07.2024.