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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Gewiß tritt in solchen Worten eine rückhaltslose Entschlossenheit hervor,
jedes Mittel anzuwenden zur Erreichung eines Zieles, von dessen tiefer, ja
ausschließlicher Berechtigung die Anhänger des Nihilismus sich überzeugt halten,
ebenso gewiß aber blickt aus der leidenschaftlichen Polemik gegen die Grund¬
gedanken des Konstitutionalismus und gegen die Neigung nihilistischer Kreise,
die konstitutionelle Bewegung in Rußland zu unterstützen, sei es auch nur
vorübergehend und nur um die bestehende Regierung zu erschüttern, die lebhafte
Furcht, die Ausführung der Konstitution könne die nihilistische Partei zersprengen,
einen Theil zum Anschluß an eine konstitutionell gewordene Regierung bewegen.
Man hat nicht das Recht, diese Furcht für unbegründet zu halten. Gewiß ist
eine Verfassung nicht das allheilende Mittel für die schweren Schäden, an
denen Rußland's Staats- und Volksleben krankt; gewiß muß Hand in Hand
mit einer solchen Reform die Heranziehung eines wirklich pflichttreuen, zuver¬
lässigen, nicht bis in's Mark hinein korrumpirten Beamtenthums gehen, muß
zugleich die harte Unterdrückung alles volkstümlichen Sonderlebens, wie sie
das starre Zentralisationsprinzip dieses Beamtenthums fordert, gemildert werden;
gewiß auch wird allein eine grundtiefe sittliche Umwandlung des russischen
Volkes , wie sie ohne die Mitwirkung der noch in unerschütterter äußerer
Geltung stehenden Kirche unmöglich ist, die einzige volle Gewähr für eine ge¬
deihliche Zukunft geben. Aber Großes wäre schon erreicht, wenn es gelänge,
die oberen Schichten des Volkes zu wirklicher, nicht nur formeller, sondern
lebendiger und eingreifender Theilnahme am Staatsleben heranzuziehen, wie
es durch eine Verfassung möglich wäre. Sicherer als irgend etwas würde
dies dem Nihilismus einen großen Theil seiner Stärke nehmen. Zieht er doch
seine Kraft nicht aus den Massen des Volkes, sondern aus den gebildeten
Ständen. Gewiß verschmäht die jetzt herrschende extreme Richtung jede Ver¬
söhnung mit der bestehenden Ordnung, scheut sie nicht vor Dolch und Revolver
zurück, betrachtet sie Religion und Moral nur als Mittel der Versklavung.
Aber auch die Carbonari haben Gift und Messer gehandhabt und sind die
Wege heimlicher Verschwörung Jahrzehnte lang gewandelt, und sie waren doch
die Vorläufer derer, die Italien's Einheit und Freiheit schufen. Sollte eine
ähnliche Umgestaltung einer doch auch wesentlich durch die Aussichtslosigkeit fried¬
licher Reformen, durch den bleiernen Druck eines korrumpirten Beamtenthums
zu wüstem Radikalismus gedrängten Partei in Rußland ganz unmöglich sein?


Otto Kaemmel.


Gewiß tritt in solchen Worten eine rückhaltslose Entschlossenheit hervor,
jedes Mittel anzuwenden zur Erreichung eines Zieles, von dessen tiefer, ja
ausschließlicher Berechtigung die Anhänger des Nihilismus sich überzeugt halten,
ebenso gewiß aber blickt aus der leidenschaftlichen Polemik gegen die Grund¬
gedanken des Konstitutionalismus und gegen die Neigung nihilistischer Kreise,
die konstitutionelle Bewegung in Rußland zu unterstützen, sei es auch nur
vorübergehend und nur um die bestehende Regierung zu erschüttern, die lebhafte
Furcht, die Ausführung der Konstitution könne die nihilistische Partei zersprengen,
einen Theil zum Anschluß an eine konstitutionell gewordene Regierung bewegen.
Man hat nicht das Recht, diese Furcht für unbegründet zu halten. Gewiß ist
eine Verfassung nicht das allheilende Mittel für die schweren Schäden, an
denen Rußland's Staats- und Volksleben krankt; gewiß muß Hand in Hand
mit einer solchen Reform die Heranziehung eines wirklich pflichttreuen, zuver¬
lässigen, nicht bis in's Mark hinein korrumpirten Beamtenthums gehen, muß
zugleich die harte Unterdrückung alles volkstümlichen Sonderlebens, wie sie
das starre Zentralisationsprinzip dieses Beamtenthums fordert, gemildert werden;
gewiß auch wird allein eine grundtiefe sittliche Umwandlung des russischen
Volkes , wie sie ohne die Mitwirkung der noch in unerschütterter äußerer
Geltung stehenden Kirche unmöglich ist, die einzige volle Gewähr für eine ge¬
deihliche Zukunft geben. Aber Großes wäre schon erreicht, wenn es gelänge,
die oberen Schichten des Volkes zu wirklicher, nicht nur formeller, sondern
lebendiger und eingreifender Theilnahme am Staatsleben heranzuziehen, wie
es durch eine Verfassung möglich wäre. Sicherer als irgend etwas würde
dies dem Nihilismus einen großen Theil seiner Stärke nehmen. Zieht er doch
seine Kraft nicht aus den Massen des Volkes, sondern aus den gebildeten
Ständen. Gewiß verschmäht die jetzt herrschende extreme Richtung jede Ver¬
söhnung mit der bestehenden Ordnung, scheut sie nicht vor Dolch und Revolver
zurück, betrachtet sie Religion und Moral nur als Mittel der Versklavung.
Aber auch die Carbonari haben Gift und Messer gehandhabt und sind die
Wege heimlicher Verschwörung Jahrzehnte lang gewandelt, und sie waren doch
die Vorläufer derer, die Italien's Einheit und Freiheit schufen. Sollte eine
ähnliche Umgestaltung einer doch auch wesentlich durch die Aussichtslosigkeit fried¬
licher Reformen, durch den bleiernen Druck eines korrumpirten Beamtenthums
zu wüstem Radikalismus gedrängten Partei in Rußland ganz unmöglich sein?


Otto Kaemmel.


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[0496] Gewiß tritt in solchen Worten eine rückhaltslose Entschlossenheit hervor, jedes Mittel anzuwenden zur Erreichung eines Zieles, von dessen tiefer, ja ausschließlicher Berechtigung die Anhänger des Nihilismus sich überzeugt halten, ebenso gewiß aber blickt aus der leidenschaftlichen Polemik gegen die Grund¬ gedanken des Konstitutionalismus und gegen die Neigung nihilistischer Kreise, die konstitutionelle Bewegung in Rußland zu unterstützen, sei es auch nur vorübergehend und nur um die bestehende Regierung zu erschüttern, die lebhafte Furcht, die Ausführung der Konstitution könne die nihilistische Partei zersprengen, einen Theil zum Anschluß an eine konstitutionell gewordene Regierung bewegen. Man hat nicht das Recht, diese Furcht für unbegründet zu halten. Gewiß ist eine Verfassung nicht das allheilende Mittel für die schweren Schäden, an denen Rußland's Staats- und Volksleben krankt; gewiß muß Hand in Hand mit einer solchen Reform die Heranziehung eines wirklich pflichttreuen, zuver¬ lässigen, nicht bis in's Mark hinein korrumpirten Beamtenthums gehen, muß zugleich die harte Unterdrückung alles volkstümlichen Sonderlebens, wie sie das starre Zentralisationsprinzip dieses Beamtenthums fordert, gemildert werden; gewiß auch wird allein eine grundtiefe sittliche Umwandlung des russischen Volkes , wie sie ohne die Mitwirkung der noch in unerschütterter äußerer Geltung stehenden Kirche unmöglich ist, die einzige volle Gewähr für eine ge¬ deihliche Zukunft geben. Aber Großes wäre schon erreicht, wenn es gelänge, die oberen Schichten des Volkes zu wirklicher, nicht nur formeller, sondern lebendiger und eingreifender Theilnahme am Staatsleben heranzuziehen, wie es durch eine Verfassung möglich wäre. Sicherer als irgend etwas würde dies dem Nihilismus einen großen Theil seiner Stärke nehmen. Zieht er doch seine Kraft nicht aus den Massen des Volkes, sondern aus den gebildeten Ständen. Gewiß verschmäht die jetzt herrschende extreme Richtung jede Ver¬ söhnung mit der bestehenden Ordnung, scheut sie nicht vor Dolch und Revolver zurück, betrachtet sie Religion und Moral nur als Mittel der Versklavung. Aber auch die Carbonari haben Gift und Messer gehandhabt und sind die Wege heimlicher Verschwörung Jahrzehnte lang gewandelt, und sie waren doch die Vorläufer derer, die Italien's Einheit und Freiheit schufen. Sollte eine ähnliche Umgestaltung einer doch auch wesentlich durch die Aussichtslosigkeit fried¬ licher Reformen, durch den bleiernen Druck eines korrumpirten Beamtenthums zu wüstem Radikalismus gedrängten Partei in Rußland ganz unmöglich sein? Otto Kaemmel.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/496>, abgerufen am 26.08.2024.