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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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mit unserer Forderung der Abschaffung nicht nur des gegenwärtigen Staates,
sondern überhaupt jeder staatlichen Ordnung und der Schöpfung der Unab¬
hängigkeit nicht nur der Nationalitäten, sondern auch der Gemeinde, der Gruppe
mit freiwilligen Verbindungen und Konföderationen? Können wir, wenn auch
nur auf Zeit, in die Reihen einer Partei eintreten, die ihre Feindschaft gegen
unsere wirthschaftliche Forderung, das Land und alle Arbeitsmittel in Kollek¬
tiveigenthum der Produktivgenossenschaften zu verwandeln, gar nicht verhehlt?
Wäre das nicht gleichbedeutend mit einer Verleugnung unserer Ideale, für
welche Dutzende von "Gruppen" und "Kreisen" der besten Leute zu Grunde
gegangen sind?"

Will Tscherkesow nichts wissen von einer auch nur vorübergehenden
Kampfgenossenschaft zwischen Sozialisten und Liberalen, so entwickelt sein
Gesinnungsgenosse Shukowskij mit rückhaltsloser Offenheit die Mittel selb¬
ständiger nihilistischer Agitation. "Wie sollen wir handeln?" fragt er. "Ueberall
und immer arbeiten gegen den Staat und außerhalb des Staates, arbeiten mit
allen Mitteln nach den Verhältnissen der Gegend, des Ortes, wo man lebt.
Agitation, Propaganda durch das Wort, Zeitungen, Bücher; Organisation der
arbeitenden Gruppen jeder Art, die sich für den Kampf mit dem Patronat in
allen seinen Formen und mit der Regierung bilden, da sie immer und überall
die Interessen der herrschenden Minderheit schützt; offene Theilnahme an Volks¬
aufständen und Arbeitseinstellungen -- das sind die Mitte! der Thätigkeit.
Nicht die Möglichkeit zu suchen, um einen Streik mit allen Mitteln zu unter¬
stützen, nicht von ihm Vortheil zu ziehen als von einem Mittel der Agitation
unter noch weniger vorbereiteten Arbeiterorganisationen, wäre unverzeihlich.
Sich als Propagandisten nur dann zu zeigen, wenn das ganze Dorf, der Bezirk,
der Kreis, in dem mau lebt, rebellirt, das wäre ebenso wunderlich, als wenn
man mit untergeschlagenen Armen einen Aufstand erwarten wollte. Aufstände
gibt es nicht jeden Tag und künstlich werden sie nicht gemacht, die Gewalt
der Dinge treibt sie hervor.... In solchen Momenten entzündet ein kühner
Schritt, mitunter ein rechtzeitig gesprochenes Wort die Massen, wie der Funke
das Pulver. Diese Feiertage sind selten im Leben des mit Arbeit überlasteten
Volkes, die Werkeltage erstrecken sich durch lange Reihen von Jahren. Kein
einziger Revolutionär kann sagen, noch hat er das Recht zu sagen, er wolle
und werde nur an den Feiertagen des Volkslebens theilnehmen. Man muß
lange für das Volk und mit dem Volke arbeiten, muß die Werkeltage mit ihm
durchlebt haben; dann werden wir auch am Feiertage unseren Platz finden....
Wir müssen vor allem das Bewußtsein ihrer Lage unter den Arbeitern ver¬
breiten, damit sie selber die Revolution machen können; für sie kann sie Nie¬
mand machen."


mit unserer Forderung der Abschaffung nicht nur des gegenwärtigen Staates,
sondern überhaupt jeder staatlichen Ordnung und der Schöpfung der Unab¬
hängigkeit nicht nur der Nationalitäten, sondern auch der Gemeinde, der Gruppe
mit freiwilligen Verbindungen und Konföderationen? Können wir, wenn auch
nur auf Zeit, in die Reihen einer Partei eintreten, die ihre Feindschaft gegen
unsere wirthschaftliche Forderung, das Land und alle Arbeitsmittel in Kollek¬
tiveigenthum der Produktivgenossenschaften zu verwandeln, gar nicht verhehlt?
Wäre das nicht gleichbedeutend mit einer Verleugnung unserer Ideale, für
welche Dutzende von „Gruppen" und „Kreisen" der besten Leute zu Grunde
gegangen sind?"

Will Tscherkesow nichts wissen von einer auch nur vorübergehenden
Kampfgenossenschaft zwischen Sozialisten und Liberalen, so entwickelt sein
Gesinnungsgenosse Shukowskij mit rückhaltsloser Offenheit die Mittel selb¬
ständiger nihilistischer Agitation. „Wie sollen wir handeln?" fragt er. „Ueberall
und immer arbeiten gegen den Staat und außerhalb des Staates, arbeiten mit
allen Mitteln nach den Verhältnissen der Gegend, des Ortes, wo man lebt.
Agitation, Propaganda durch das Wort, Zeitungen, Bücher; Organisation der
arbeitenden Gruppen jeder Art, die sich für den Kampf mit dem Patronat in
allen seinen Formen und mit der Regierung bilden, da sie immer und überall
die Interessen der herrschenden Minderheit schützt; offene Theilnahme an Volks¬
aufständen und Arbeitseinstellungen — das sind die Mitte! der Thätigkeit.
Nicht die Möglichkeit zu suchen, um einen Streik mit allen Mitteln zu unter¬
stützen, nicht von ihm Vortheil zu ziehen als von einem Mittel der Agitation
unter noch weniger vorbereiteten Arbeiterorganisationen, wäre unverzeihlich.
Sich als Propagandisten nur dann zu zeigen, wenn das ganze Dorf, der Bezirk,
der Kreis, in dem mau lebt, rebellirt, das wäre ebenso wunderlich, als wenn
man mit untergeschlagenen Armen einen Aufstand erwarten wollte. Aufstände
gibt es nicht jeden Tag und künstlich werden sie nicht gemacht, die Gewalt
der Dinge treibt sie hervor.... In solchen Momenten entzündet ein kühner
Schritt, mitunter ein rechtzeitig gesprochenes Wort die Massen, wie der Funke
das Pulver. Diese Feiertage sind selten im Leben des mit Arbeit überlasteten
Volkes, die Werkeltage erstrecken sich durch lange Reihen von Jahren. Kein
einziger Revolutionär kann sagen, noch hat er das Recht zu sagen, er wolle
und werde nur an den Feiertagen des Volkslebens theilnehmen. Man muß
lange für das Volk und mit dem Volke arbeiten, muß die Werkeltage mit ihm
durchlebt haben; dann werden wir auch am Feiertage unseren Platz finden....
Wir müssen vor allem das Bewußtsein ihrer Lage unter den Arbeitern ver¬
breiten, damit sie selber die Revolution machen können; für sie kann sie Nie¬
mand machen."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/495>, abgerufen am 26.08.2024.