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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Eine schwere Krisis freilich steht der revolutionären Partei in Rußland
noch bevor. Das ist die Möglichkeit der Verleihung einer Konstitution.
Vorbereitet erscheint diese längst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861),
die Einführung von Landtagen (Sembstwa), der Gouvernements (1864), die
Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Prozesses, die Einführung der Geschworenen¬
gerichte für die Strafrechtspflege (1865), die Städteordmmg (1870). Ein
großer Theil der Revolutionäre wurde durch diese Aussicht befriedigt, trat auf
die Seite der Regierung und meinte, der türkische Krieg werde indirekt die
konstitutionelle Entwickelung Rußland's fördern. Das fortdauernde Elend der
Massen, die zahllosen lokalen Aufstände fachen diese Liberalen nicht, sie sahen
auch nicht die fortgesetzten despotischen Maßregeln der Regierung. Dem gegen¬
über setzten die entschlossenen Revolutionäre ihre Arbeit fort; es folgte der
Prozeß der 193 Nihilisten (Oktober 1877), "der Skandal Trepow, die heroische
Rache der Wjera Sassulitsch, das seltsame Gericht*)." Der Czar verlor die
Haltung, gelangte zu widerspruchsvollen Maßregeln. "Wohin sich wenden?
Nur eins schien zu retten: eine Konstitution."

Shukowskij polemisirt auf's entschiedenste gegen diejenigen seiner Genossen,
welche ihre Hoffnung auf diese Konstitution setzen. Niemals könne sie ernst
gemeint sein, niemals auch die revolutionären Theorieen irgendwie verwirklichen.
Das werden, glaubt er, die, welche sich den Plänen der Regierung zuwenden,
auch bald erkennen, und sie werden dann entweder zu ihren alten Anschauungen
zurückkehren oder ganz auf die Seite der Regierung treten.

Wenn der Verfasser es für nöthig hält, gegen jede Unterstützung der
Konstitutionellen durch die Nihilisten entschieden Front zu machen, so liefert
er damit den deutlichsten Beweis, daß eine starke Strömung innerhalb der
nihilistischen Partei nach dieser von ihm verabscheuten Richtung drängt. Seht
deutlich tritt dies auch aus dem Aufsätze eines Gesinnungsgenossen, W. Tscher-
kesow's, hervor, der durch dieselbe Bewegung hervorgerufen worden ist. Ge¬
waltig, führt er aus, hat sich die konstitutionelle Frage in den Vordergrund
gedrängt, seitdem die ungeschickte Führung des türkischen Krieges den Glauben
an das herrschende System erschüttert, die Unzufriedenheit durch alle Theile
des Reiches und alle Schichten der Bevölkerung verbreitet hat. Naturgemäß
tritt auch an die Nihilisten die Frage heran, ob'sie diese konstitutionelle Be¬
wegung unterstützen sollen oder nicht. Die Mehrheit der Partei bejaht die
Frage, weil jedes Mittel benutzt werden müsse, die bestehende Ordnung in's
Wanken zu bringen. Aber so richtig dies sein mag, die Geschichte beweist, daß
die Propaganda durch das bloße Wort niemals etwas genützt hat, daß vielmehr



*) Das bekanntlich die Angeklagte trotz ihres Geständnisses freisprach.
<"renzboten I. 1379.

Eine schwere Krisis freilich steht der revolutionären Partei in Rußland
noch bevor. Das ist die Möglichkeit der Verleihung einer Konstitution.
Vorbereitet erscheint diese längst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861),
die Einführung von Landtagen (Sembstwa), der Gouvernements (1864), die
Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Prozesses, die Einführung der Geschworenen¬
gerichte für die Strafrechtspflege (1865), die Städteordmmg (1870). Ein
großer Theil der Revolutionäre wurde durch diese Aussicht befriedigt, trat auf
die Seite der Regierung und meinte, der türkische Krieg werde indirekt die
konstitutionelle Entwickelung Rußland's fördern. Das fortdauernde Elend der
Massen, die zahllosen lokalen Aufstände fachen diese Liberalen nicht, sie sahen
auch nicht die fortgesetzten despotischen Maßregeln der Regierung. Dem gegen¬
über setzten die entschlossenen Revolutionäre ihre Arbeit fort; es folgte der
Prozeß der 193 Nihilisten (Oktober 1877), „der Skandal Trepow, die heroische
Rache der Wjera Sassulitsch, das seltsame Gericht*)." Der Czar verlor die
Haltung, gelangte zu widerspruchsvollen Maßregeln. „Wohin sich wenden?
Nur eins schien zu retten: eine Konstitution."

Shukowskij polemisirt auf's entschiedenste gegen diejenigen seiner Genossen,
welche ihre Hoffnung auf diese Konstitution setzen. Niemals könne sie ernst
gemeint sein, niemals auch die revolutionären Theorieen irgendwie verwirklichen.
Das werden, glaubt er, die, welche sich den Plänen der Regierung zuwenden,
auch bald erkennen, und sie werden dann entweder zu ihren alten Anschauungen
zurückkehren oder ganz auf die Seite der Regierung treten.

Wenn der Verfasser es für nöthig hält, gegen jede Unterstützung der
Konstitutionellen durch die Nihilisten entschieden Front zu machen, so liefert
er damit den deutlichsten Beweis, daß eine starke Strömung innerhalb der
nihilistischen Partei nach dieser von ihm verabscheuten Richtung drängt. Seht
deutlich tritt dies auch aus dem Aufsätze eines Gesinnungsgenossen, W. Tscher-
kesow's, hervor, der durch dieselbe Bewegung hervorgerufen worden ist. Ge¬
waltig, führt er aus, hat sich die konstitutionelle Frage in den Vordergrund
gedrängt, seitdem die ungeschickte Führung des türkischen Krieges den Glauben
an das herrschende System erschüttert, die Unzufriedenheit durch alle Theile
des Reiches und alle Schichten der Bevölkerung verbreitet hat. Naturgemäß
tritt auch an die Nihilisten die Frage heran, ob'sie diese konstitutionelle Be¬
wegung unterstützen sollen oder nicht. Die Mehrheit der Partei bejaht die
Frage, weil jedes Mittel benutzt werden müsse, die bestehende Ordnung in's
Wanken zu bringen. Aber so richtig dies sein mag, die Geschichte beweist, daß
die Propaganda durch das bloße Wort niemals etwas genützt hat, daß vielmehr



*) Das bekanntlich die Angeklagte trotz ihres Geständnisses freisprach.
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[0493] Eine schwere Krisis freilich steht der revolutionären Partei in Rußland noch bevor. Das ist die Möglichkeit der Verleihung einer Konstitution. Vorbereitet erscheint diese längst durch die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), die Einführung von Landtagen (Sembstwa), der Gouvernements (1864), die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Prozesses, die Einführung der Geschworenen¬ gerichte für die Strafrechtspflege (1865), die Städteordmmg (1870). Ein großer Theil der Revolutionäre wurde durch diese Aussicht befriedigt, trat auf die Seite der Regierung und meinte, der türkische Krieg werde indirekt die konstitutionelle Entwickelung Rußland's fördern. Das fortdauernde Elend der Massen, die zahllosen lokalen Aufstände fachen diese Liberalen nicht, sie sahen auch nicht die fortgesetzten despotischen Maßregeln der Regierung. Dem gegen¬ über setzten die entschlossenen Revolutionäre ihre Arbeit fort; es folgte der Prozeß der 193 Nihilisten (Oktober 1877), „der Skandal Trepow, die heroische Rache der Wjera Sassulitsch, das seltsame Gericht*)." Der Czar verlor die Haltung, gelangte zu widerspruchsvollen Maßregeln. „Wohin sich wenden? Nur eins schien zu retten: eine Konstitution." Shukowskij polemisirt auf's entschiedenste gegen diejenigen seiner Genossen, welche ihre Hoffnung auf diese Konstitution setzen. Niemals könne sie ernst gemeint sein, niemals auch die revolutionären Theorieen irgendwie verwirklichen. Das werden, glaubt er, die, welche sich den Plänen der Regierung zuwenden, auch bald erkennen, und sie werden dann entweder zu ihren alten Anschauungen zurückkehren oder ganz auf die Seite der Regierung treten. Wenn der Verfasser es für nöthig hält, gegen jede Unterstützung der Konstitutionellen durch die Nihilisten entschieden Front zu machen, so liefert er damit den deutlichsten Beweis, daß eine starke Strömung innerhalb der nihilistischen Partei nach dieser von ihm verabscheuten Richtung drängt. Seht deutlich tritt dies auch aus dem Aufsätze eines Gesinnungsgenossen, W. Tscher- kesow's, hervor, der durch dieselbe Bewegung hervorgerufen worden ist. Ge¬ waltig, führt er aus, hat sich die konstitutionelle Frage in den Vordergrund gedrängt, seitdem die ungeschickte Führung des türkischen Krieges den Glauben an das herrschende System erschüttert, die Unzufriedenheit durch alle Theile des Reiches und alle Schichten der Bevölkerung verbreitet hat. Naturgemäß tritt auch an die Nihilisten die Frage heran, ob'sie diese konstitutionelle Be¬ wegung unterstützen sollen oder nicht. Die Mehrheit der Partei bejaht die Frage, weil jedes Mittel benutzt werden müsse, die bestehende Ordnung in's Wanken zu bringen. Aber so richtig dies sein mag, die Geschichte beweist, daß die Propaganda durch das bloße Wort niemals etwas genützt hat, daß vielmehr *) Das bekanntlich die Angeklagte trotz ihres Geständnisses freisprach. <«renzboten I. 1379.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/493>, abgerufen am 26.08.2024.