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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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das nach eigenem Willen, nicht auf Befehl eines czarischen Reformators zwei
Jahrhunderte hindurch mit der "türkischen Knechtschaft" gerungen hatte. Es
ist nichts dabei zu sagen, schön war das Mittel ersonnen, schön auch der Moment
gewählt. Die Jugend der Ukraine wurde aus dem engen Kreise der Propa¬
ganda in der russischen Ukraine herausgerissen; sie betrat das offene, außer¬
staatliche, internationale Feld. Alexander täuschte sich: er dachte mit einem
Male der revolutionären Propaganda ein Ende zu machen, aber sie wuchs
nicht nur in der russischen Ukraine empor, sondern sie drang auch in die Länder
seines Bundesgenossen, des Kaisers von Oesterreich-Ungarn, ein*). So bildete
sich die sozialistische Partei der Ukraine. Kraft der Umstände muß sie födera¬
listisch sein; auf der einen Seite verbrüdert sie sich mit den föderalistischen
Revolutionären Rußland's, auf der anderen mit denen der West- und Sttd-
slaven und der Polen, überhaupt mit allen, die den Föderalismus zur Basis
ihrer Organisation genommen haben."

"In dieser Bewegung liegt der Keim der Zukunft der Völker, die durch
die eiserne Zange des gesammt-russischen Kaisertums zusammengeschweißt
worden sind. Denn die russische Regierung hat nur den russischen Gensdarmen,
den russischen Spion, aber kein gesammt-russisches Volk."

Dem entsprechend, führt der Verfasser weiter aus, hat auch die revolu¬
tionäre Jugend in Nußland sich keine zentralistische Organisation geben können.
Nachdem sie mit der Tradition der gesammt-russischen Beglückung eines nicht
existirenden gesammt-russischen Volkes gebrochen, haben die Agitatoren und
Propagandisten der letzten Jahre auf selbständige "Kreise" (Krnshka) hinge¬
arbeitet, sich keinem Komite untergeordnet, nicht den Willen einer fremden, per¬
sönlichen oder genossenschaftlichen Diktatur ausgeführt. Das ist auch nicht er¬
staunlich, denn die Diktatur paßt nicht zu dem eigenthümlichen Wesen unserer
Völker." Nur in der Hauptstadt haben sich dergleichen Bestrebungen gezeigt,
aber ohne Erfolg zu erzielen, denn "der Geist der landschaftlichen Unab¬
hängigkeit ist so stark in der Bevölkerung, daß die Stämme, welche Rußland
bewohnen, sich keinem Komite unterordnen wollen, das in Petersburg seinen
Sitz hat. Von allen Komites, die bis jetzt thätig gewesen sind, kann nur das
Komite "Land und Freiheit" mehr oder weniger ernst genommen werden; aber
schon hat die "Gruppe" (gruppa) der Revolutionäre von Kasan sich geweigert,
dem Komite sich unterzuordnen; diesem Beispiele folgt jede örtliche Gruppe."
Freilich hat sich gelegentlich die Unzulänglichkeit dieser losen Organisation ge¬
zeigt, doch muß die Gleichheit der Interessen diesen Mangel ersetzen.



*) Die Ruthenen Galizien's und Ostungarn's sind bekanntlich die Stammesbrüder der
Kleinrussen.

das nach eigenem Willen, nicht auf Befehl eines czarischen Reformators zwei
Jahrhunderte hindurch mit der „türkischen Knechtschaft" gerungen hatte. Es
ist nichts dabei zu sagen, schön war das Mittel ersonnen, schön auch der Moment
gewählt. Die Jugend der Ukraine wurde aus dem engen Kreise der Propa¬
ganda in der russischen Ukraine herausgerissen; sie betrat das offene, außer¬
staatliche, internationale Feld. Alexander täuschte sich: er dachte mit einem
Male der revolutionären Propaganda ein Ende zu machen, aber sie wuchs
nicht nur in der russischen Ukraine empor, sondern sie drang auch in die Länder
seines Bundesgenossen, des Kaisers von Oesterreich-Ungarn, ein*). So bildete
sich die sozialistische Partei der Ukraine. Kraft der Umstände muß sie födera¬
listisch sein; auf der einen Seite verbrüdert sie sich mit den föderalistischen
Revolutionären Rußland's, auf der anderen mit denen der West- und Sttd-
slaven und der Polen, überhaupt mit allen, die den Föderalismus zur Basis
ihrer Organisation genommen haben."

„In dieser Bewegung liegt der Keim der Zukunft der Völker, die durch
die eiserne Zange des gesammt-russischen Kaisertums zusammengeschweißt
worden sind. Denn die russische Regierung hat nur den russischen Gensdarmen,
den russischen Spion, aber kein gesammt-russisches Volk."

Dem entsprechend, führt der Verfasser weiter aus, hat auch die revolu¬
tionäre Jugend in Nußland sich keine zentralistische Organisation geben können.
Nachdem sie mit der Tradition der gesammt-russischen Beglückung eines nicht
existirenden gesammt-russischen Volkes gebrochen, haben die Agitatoren und
Propagandisten der letzten Jahre auf selbständige „Kreise" (Krnshka) hinge¬
arbeitet, sich keinem Komite untergeordnet, nicht den Willen einer fremden, per¬
sönlichen oder genossenschaftlichen Diktatur ausgeführt. Das ist auch nicht er¬
staunlich, denn die Diktatur paßt nicht zu dem eigenthümlichen Wesen unserer
Völker." Nur in der Hauptstadt haben sich dergleichen Bestrebungen gezeigt,
aber ohne Erfolg zu erzielen, denn „der Geist der landschaftlichen Unab¬
hängigkeit ist so stark in der Bevölkerung, daß die Stämme, welche Rußland
bewohnen, sich keinem Komite unterordnen wollen, das in Petersburg seinen
Sitz hat. Von allen Komites, die bis jetzt thätig gewesen sind, kann nur das
Komite „Land und Freiheit" mehr oder weniger ernst genommen werden; aber
schon hat die „Gruppe" (gruppa) der Revolutionäre von Kasan sich geweigert,
dem Komite sich unterzuordnen; diesem Beispiele folgt jede örtliche Gruppe."
Freilich hat sich gelegentlich die Unzulänglichkeit dieser losen Organisation ge¬
zeigt, doch muß die Gleichheit der Interessen diesen Mangel ersetzen.



*) Die Ruthenen Galizien's und Ostungarn's sind bekanntlich die Stammesbrüder der
Kleinrussen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/492>, abgerufen am 26.08.2024.