Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Das allen Nachrichten zufolge sehr lebhafte Streben nach Einigung aller
Bulgaren in einem Staate birgt weniger Gefahren in sich, als die Aussicht
auf Intriguen und Kämpfe der Parteien. Jenes kann zu blutigen Ereignissen
führen und für den Augenblick fehlschlagen, aber es wird das jetzige Fürsten-
thum in seinem Bestände und seiner inneren Entwickelung nicht sehr wesentlich
erschüttern. Die Zukunft wird fein Ziel erreichen lassen. Etwas Anderes
wären jene Parteistreitigkeiten im Innern, die dem jungen Staate nicht die
erforderliche Ruhe gönnen, Ueberstürzungen herbeiführen, an die Stelle der
Reform die Revolution setzen und Land und Volk auf lange Zeit zerrütten
würden, wie dies, abgesehen von den augeführten Beispielen, in Griechenland
von Anfang an bis auf den heutigen Tag zu beklagen war. Man sagt uns,
die Männer, die in Bulgarien vor allem als Führer anzusehen, Dimitri Zankow
und Marko Balabanow, seien tüchtige Charaktere mit guter Bildung und wohl¬
bekannt mit den politischen Verhältnissen im Allgemeinen wie im Einzelnen.
Sie würden sorgen, daß das Erreichte nicht mehr in Frage gestellt werde.
Außer ihnen mangele es nicht an wohldenkenden und populären Leuten zur
Besetzung der höheren und niederen Beamtenposten. Aber die Anfänge zur
Bildung von Parteien sind bereits sichtbar, und gerade jener Balabanow
scheint die Absicht zu haben, sich an die Spitze der Opposition zu stellen.

Denken wir uns die im Vorstehenden bezeichneten Gefahren hinweg, fo
besitzt Bulgarien alle Eigenschaften, die eine gedeihliche Existenz bedingen, und
es wird eben nur Sache der Bulgaren selbst sein, diese Vortheile zur vollen
Geltung zu bringen. Das Land ist reich an Naturschätzen, es hat eine gute
geographische Lage, mit direktem Zugänge zum Meere, und es steht durch den
mächtigen Donaustrom mit dem Herzen Europa's in Verbindung. Auch das Volk
könnte, umsichtig und geschickt geleitet, Tüchtiges leisten. Es ist weniger kriege¬
risch als die anderen slavischen Stämme der Balkanhalbinsel, dafür versteht es
sich aber auf die Künste des Friedens, auf Handel, Landwirthschaft und Gar¬
tenbau besser als diese. Es ist anerkanntermaßen sehr arbeitsam und wohlbe¬
fähigt, dem größtenteils äußerst ergiebigen Boden des Landes seine Reich¬
thümer abzugewinnen und das Gewonnene durch Handel und Verkehr nutz¬
bringend zu verwerthen.

Das Volk der Bulgaren*) ist aus der Verschmelzung eines finnisch-
ugrischen Stammes mit einem slavischen, den Serben und Kroaten verwandten
Volke entstanden. Jener ugrische Stamm drang nach längerem Aufenthalte



*) Wir folgen in der nachstehenden Schilderung Jirccek's "Geschichte der Bulgaren",
Baker's Schrift "Die Türken in Europa" (deutsche Ausgabe), Rosen's vortrefflichem kleinen
Buche "Bulgarische Volksdichtungen" und Moltke's "Briefen aus der Türkei".

Das allen Nachrichten zufolge sehr lebhafte Streben nach Einigung aller
Bulgaren in einem Staate birgt weniger Gefahren in sich, als die Aussicht
auf Intriguen und Kämpfe der Parteien. Jenes kann zu blutigen Ereignissen
führen und für den Augenblick fehlschlagen, aber es wird das jetzige Fürsten-
thum in seinem Bestände und seiner inneren Entwickelung nicht sehr wesentlich
erschüttern. Die Zukunft wird fein Ziel erreichen lassen. Etwas Anderes
wären jene Parteistreitigkeiten im Innern, die dem jungen Staate nicht die
erforderliche Ruhe gönnen, Ueberstürzungen herbeiführen, an die Stelle der
Reform die Revolution setzen und Land und Volk auf lange Zeit zerrütten
würden, wie dies, abgesehen von den augeführten Beispielen, in Griechenland
von Anfang an bis auf den heutigen Tag zu beklagen war. Man sagt uns,
die Männer, die in Bulgarien vor allem als Führer anzusehen, Dimitri Zankow
und Marko Balabanow, seien tüchtige Charaktere mit guter Bildung und wohl¬
bekannt mit den politischen Verhältnissen im Allgemeinen wie im Einzelnen.
Sie würden sorgen, daß das Erreichte nicht mehr in Frage gestellt werde.
Außer ihnen mangele es nicht an wohldenkenden und populären Leuten zur
Besetzung der höheren und niederen Beamtenposten. Aber die Anfänge zur
Bildung von Parteien sind bereits sichtbar, und gerade jener Balabanow
scheint die Absicht zu haben, sich an die Spitze der Opposition zu stellen.

Denken wir uns die im Vorstehenden bezeichneten Gefahren hinweg, fo
besitzt Bulgarien alle Eigenschaften, die eine gedeihliche Existenz bedingen, und
es wird eben nur Sache der Bulgaren selbst sein, diese Vortheile zur vollen
Geltung zu bringen. Das Land ist reich an Naturschätzen, es hat eine gute
geographische Lage, mit direktem Zugänge zum Meere, und es steht durch den
mächtigen Donaustrom mit dem Herzen Europa's in Verbindung. Auch das Volk
könnte, umsichtig und geschickt geleitet, Tüchtiges leisten. Es ist weniger kriege¬
risch als die anderen slavischen Stämme der Balkanhalbinsel, dafür versteht es
sich aber auf die Künste des Friedens, auf Handel, Landwirthschaft und Gar¬
tenbau besser als diese. Es ist anerkanntermaßen sehr arbeitsam und wohlbe¬
fähigt, dem größtenteils äußerst ergiebigen Boden des Landes seine Reich¬
thümer abzugewinnen und das Gewonnene durch Handel und Verkehr nutz¬
bringend zu verwerthen.

Das Volk der Bulgaren*) ist aus der Verschmelzung eines finnisch-
ugrischen Stammes mit einem slavischen, den Serben und Kroaten verwandten
Volke entstanden. Jener ugrische Stamm drang nach längerem Aufenthalte



*) Wir folgen in der nachstehenden Schilderung Jirccek's „Geschichte der Bulgaren",
Baker's Schrift „Die Türken in Europa" (deutsche Ausgabe), Rosen's vortrefflichem kleinen
Buche „Bulgarische Volksdichtungen" und Moltke's „Briefen aus der Türkei".
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141873"/>
          <p xml:id="ID_1349"> Das allen Nachrichten zufolge sehr lebhafte Streben nach Einigung aller<lb/>
Bulgaren in einem Staate birgt weniger Gefahren in sich, als die Aussicht<lb/>
auf Intriguen und Kämpfe der Parteien. Jenes kann zu blutigen Ereignissen<lb/>
führen und für den Augenblick fehlschlagen, aber es wird das jetzige Fürsten-<lb/>
thum in seinem Bestände und seiner inneren Entwickelung nicht sehr wesentlich<lb/>
erschüttern. Die Zukunft wird fein Ziel erreichen lassen. Etwas Anderes<lb/>
wären jene Parteistreitigkeiten im Innern, die dem jungen Staate nicht die<lb/>
erforderliche Ruhe gönnen, Ueberstürzungen herbeiführen, an die Stelle der<lb/>
Reform die Revolution setzen und Land und Volk auf lange Zeit zerrütten<lb/>
würden, wie dies, abgesehen von den augeführten Beispielen, in Griechenland<lb/>
von Anfang an bis auf den heutigen Tag zu beklagen war. Man sagt uns,<lb/>
die Männer, die in Bulgarien vor allem als Führer anzusehen, Dimitri Zankow<lb/>
und Marko Balabanow, seien tüchtige Charaktere mit guter Bildung und wohl¬<lb/>
bekannt mit den politischen Verhältnissen im Allgemeinen wie im Einzelnen.<lb/>
Sie würden sorgen, daß das Erreichte nicht mehr in Frage gestellt werde.<lb/>
Außer ihnen mangele es nicht an wohldenkenden und populären Leuten zur<lb/>
Besetzung der höheren und niederen Beamtenposten. Aber die Anfänge zur<lb/>
Bildung von Parteien sind bereits sichtbar, und gerade jener Balabanow<lb/>
scheint die Absicht zu haben, sich an die Spitze der Opposition zu stellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1350"> Denken wir uns die im Vorstehenden bezeichneten Gefahren hinweg, fo<lb/>
besitzt Bulgarien alle Eigenschaften, die eine gedeihliche Existenz bedingen, und<lb/>
es wird eben nur Sache der Bulgaren selbst sein, diese Vortheile zur vollen<lb/>
Geltung zu bringen. Das Land ist reich an Naturschätzen, es hat eine gute<lb/>
geographische Lage, mit direktem Zugänge zum Meere, und es steht durch den<lb/>
mächtigen Donaustrom mit dem Herzen Europa's in Verbindung. Auch das Volk<lb/>
könnte, umsichtig und geschickt geleitet, Tüchtiges leisten. Es ist weniger kriege¬<lb/>
risch als die anderen slavischen Stämme der Balkanhalbinsel, dafür versteht es<lb/>
sich aber auf die Künste des Friedens, auf Handel, Landwirthschaft und Gar¬<lb/>
tenbau besser als diese. Es ist anerkanntermaßen sehr arbeitsam und wohlbe¬<lb/>
fähigt, dem größtenteils äußerst ergiebigen Boden des Landes seine Reich¬<lb/>
thümer abzugewinnen und das Gewonnene durch Handel und Verkehr nutz¬<lb/>
bringend zu verwerthen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1351" next="#ID_1352"> Das Volk der Bulgaren*) ist aus der Verschmelzung eines finnisch-<lb/>
ugrischen Stammes mit einem slavischen, den Serben und Kroaten verwandten<lb/>
Volke entstanden. Jener ugrische Stamm drang nach längerem Aufenthalte</p><lb/>
          <note xml:id="FID_94" place="foot"> *) Wir folgen in der nachstehenden Schilderung Jirccek's &#x201E;Geschichte der Bulgaren",<lb/>
Baker's Schrift &#x201E;Die Türken in Europa" (deutsche Ausgabe), Rosen's vortrefflichem kleinen<lb/>
Buche &#x201E;Bulgarische Volksdichtungen" und Moltke's &#x201E;Briefen aus der Türkei".</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0462] Das allen Nachrichten zufolge sehr lebhafte Streben nach Einigung aller Bulgaren in einem Staate birgt weniger Gefahren in sich, als die Aussicht auf Intriguen und Kämpfe der Parteien. Jenes kann zu blutigen Ereignissen führen und für den Augenblick fehlschlagen, aber es wird das jetzige Fürsten- thum in seinem Bestände und seiner inneren Entwickelung nicht sehr wesentlich erschüttern. Die Zukunft wird fein Ziel erreichen lassen. Etwas Anderes wären jene Parteistreitigkeiten im Innern, die dem jungen Staate nicht die erforderliche Ruhe gönnen, Ueberstürzungen herbeiführen, an die Stelle der Reform die Revolution setzen und Land und Volk auf lange Zeit zerrütten würden, wie dies, abgesehen von den augeführten Beispielen, in Griechenland von Anfang an bis auf den heutigen Tag zu beklagen war. Man sagt uns, die Männer, die in Bulgarien vor allem als Führer anzusehen, Dimitri Zankow und Marko Balabanow, seien tüchtige Charaktere mit guter Bildung und wohl¬ bekannt mit den politischen Verhältnissen im Allgemeinen wie im Einzelnen. Sie würden sorgen, daß das Erreichte nicht mehr in Frage gestellt werde. Außer ihnen mangele es nicht an wohldenkenden und populären Leuten zur Besetzung der höheren und niederen Beamtenposten. Aber die Anfänge zur Bildung von Parteien sind bereits sichtbar, und gerade jener Balabanow scheint die Absicht zu haben, sich an die Spitze der Opposition zu stellen. Denken wir uns die im Vorstehenden bezeichneten Gefahren hinweg, fo besitzt Bulgarien alle Eigenschaften, die eine gedeihliche Existenz bedingen, und es wird eben nur Sache der Bulgaren selbst sein, diese Vortheile zur vollen Geltung zu bringen. Das Land ist reich an Naturschätzen, es hat eine gute geographische Lage, mit direktem Zugänge zum Meere, und es steht durch den mächtigen Donaustrom mit dem Herzen Europa's in Verbindung. Auch das Volk könnte, umsichtig und geschickt geleitet, Tüchtiges leisten. Es ist weniger kriege¬ risch als die anderen slavischen Stämme der Balkanhalbinsel, dafür versteht es sich aber auf die Künste des Friedens, auf Handel, Landwirthschaft und Gar¬ tenbau besser als diese. Es ist anerkanntermaßen sehr arbeitsam und wohlbe¬ fähigt, dem größtenteils äußerst ergiebigen Boden des Landes seine Reich¬ thümer abzugewinnen und das Gewonnene durch Handel und Verkehr nutz¬ bringend zu verwerthen. Das Volk der Bulgaren*) ist aus der Verschmelzung eines finnisch- ugrischen Stammes mit einem slavischen, den Serben und Kroaten verwandten Volke entstanden. Jener ugrische Stamm drang nach längerem Aufenthalte *) Wir folgen in der nachstehenden Schilderung Jirccek's „Geschichte der Bulgaren", Baker's Schrift „Die Türken in Europa" (deutsche Ausgabe), Rosen's vortrefflichem kleinen Buche „Bulgarische Volksdichtungen" und Moltke's „Briefen aus der Türkei".

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/462
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/462>, abgerufen am 01.07.2024.