Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

gedröselte, meta- und paraphrasirte Poem Goethe's seien; man höre das
Silbenmaß mit der Wort- und Satzfolge noch hindurch.

In ein noch gefährlicheres Stadium sür Bettina trat die Angelegenheit,
als authentisch nachgewiesen wurde, daß einzelne der Goethischen Sonette durch
Minna Herzlich, die jugendliche Pflegetochter des Jenaer Buchhändlers From-
mann, angeregt worden find. Ganz zweifellos ist dies mit dem siebzehnten der
Fall, der "Charade", deren Lösung ja eben der Name "Herzlich" ist, ebenso mit
dem sechzehnten, "Epoche", welches sich auf Goethe's Zusammensein mit Minna
in Jena am "Advent von Achtzehnhundertsieben" bezieht; und da man auch in
dem zehnten, "Sie kann nicht enden", welches Bettina ebenfalls beansprucht
hatte, in der Zeile: "Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!"
eine offenbare Anspielung auf deu Namen Herzlich zu sehen glaubte, so war es
nun nicht weit mehr bis zu der Annahme, daß der ganze Souetteneyclus auf Minna
Herzlich gedichtet sei, und Bettina nicht den mindesten Anspruch darauf habe.
Es ist dies die Auffassung, die Schäfer in seinem Leben Goethe's vertreten hat.

Eine vermittelnde Ansicht suchte Viehoff in feiner Goethe-Biographie und
feinen Erläuterungen zu Goethe's Gedichten zur Geltung zu bringen. Ihm
schien es recht wohl in Einklang zu stehen, wenn Goethe in den Briefen sich
gehaltener und gemessener zeige, in den Gedichten dagegen einen leidenschaftlichen
Ton anschlage. In den Briefen habe er sich eben wahr und seinen wirklichen
Empfindungen entsprechend gegeben, in den Sonetten sei er spielend auf die
Gefühle Bettina's eingegangen. Von den Briefen, die Riemer blos für prosa¬
ische Aufdröselungeu Goethischer Sonette erklärt hatte, meinte Viehoff, daß sie
sich in Ton und Ausdrucksweise keineswegs von Bettina's übriger Korrespon¬
denz unterscheiden. Ein Theil der Sonette beziehe sich ohne Zweifel auf Minna
Herzlich. Aber Goethe habe jedenfalls Bettina's schwärmerische Liebe zu ihm
und seine eigene aufkeimeiche Neigung zu Minna in den Sonetten in ähn¬
licher Weise verwoben, wie im "Werther" die Verhältnisse zu Lotte und zu
Maxinnliane. Hieraus erkläre es sich auch, warum sich in der faktischen Unter¬
lage des ganzen Sonettenkranzes keine rechte Kongruenz zeige, die Geliebte
bald als abwesend, bald als gegenwärtig, bald als schwärmerisch zugethan,
bald als zurückhaltend erscheine.

Dieser Vermittelungsversuch hat eine derbe Zurückweisung durch Düntzer
in dessen "Erläuterungen zu Goethe's lyrischen Gedichten" erfahren. Düntzer
redet von Viehoff's "Aberglauben an Bettina" und meint, in seiner Auffassung
vermisse man "eben so sehr Kenntniß der Thatsachen wie verständiges Urtheil".
Er sucht im Einzelnen nachzuweisen, wie Bettina in den von ihr in Prosa
verwandelten Sonetten sich nicht einmal die Mühe genommen habe, die Reime
zu beseitigen, und erklärt Bettina's Verfahren wiederholt geradezu als "Betrug".


gedröselte, meta- und paraphrasirte Poem Goethe's seien; man höre das
Silbenmaß mit der Wort- und Satzfolge noch hindurch.

In ein noch gefährlicheres Stadium sür Bettina trat die Angelegenheit,
als authentisch nachgewiesen wurde, daß einzelne der Goethischen Sonette durch
Minna Herzlich, die jugendliche Pflegetochter des Jenaer Buchhändlers From-
mann, angeregt worden find. Ganz zweifellos ist dies mit dem siebzehnten der
Fall, der „Charade", deren Lösung ja eben der Name „Herzlich" ist, ebenso mit
dem sechzehnten, „Epoche", welches sich auf Goethe's Zusammensein mit Minna
in Jena am „Advent von Achtzehnhundertsieben" bezieht; und da man auch in
dem zehnten, „Sie kann nicht enden", welches Bettina ebenfalls beansprucht
hatte, in der Zeile: „Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!"
eine offenbare Anspielung auf deu Namen Herzlich zu sehen glaubte, so war es
nun nicht weit mehr bis zu der Annahme, daß der ganze Souetteneyclus auf Minna
Herzlich gedichtet sei, und Bettina nicht den mindesten Anspruch darauf habe.
Es ist dies die Auffassung, die Schäfer in seinem Leben Goethe's vertreten hat.

Eine vermittelnde Ansicht suchte Viehoff in feiner Goethe-Biographie und
feinen Erläuterungen zu Goethe's Gedichten zur Geltung zu bringen. Ihm
schien es recht wohl in Einklang zu stehen, wenn Goethe in den Briefen sich
gehaltener und gemessener zeige, in den Gedichten dagegen einen leidenschaftlichen
Ton anschlage. In den Briefen habe er sich eben wahr und seinen wirklichen
Empfindungen entsprechend gegeben, in den Sonetten sei er spielend auf die
Gefühle Bettina's eingegangen. Von den Briefen, die Riemer blos für prosa¬
ische Aufdröselungeu Goethischer Sonette erklärt hatte, meinte Viehoff, daß sie
sich in Ton und Ausdrucksweise keineswegs von Bettina's übriger Korrespon¬
denz unterscheiden. Ein Theil der Sonette beziehe sich ohne Zweifel auf Minna
Herzlich. Aber Goethe habe jedenfalls Bettina's schwärmerische Liebe zu ihm
und seine eigene aufkeimeiche Neigung zu Minna in den Sonetten in ähn¬
licher Weise verwoben, wie im „Werther" die Verhältnisse zu Lotte und zu
Maxinnliane. Hieraus erkläre es sich auch, warum sich in der faktischen Unter¬
lage des ganzen Sonettenkranzes keine rechte Kongruenz zeige, die Geliebte
bald als abwesend, bald als gegenwärtig, bald als schwärmerisch zugethan,
bald als zurückhaltend erscheine.

Dieser Vermittelungsversuch hat eine derbe Zurückweisung durch Düntzer
in dessen „Erläuterungen zu Goethe's lyrischen Gedichten" erfahren. Düntzer
redet von Viehoff's „Aberglauben an Bettina" und meint, in seiner Auffassung
vermisse man „eben so sehr Kenntniß der Thatsachen wie verständiges Urtheil".
Er sucht im Einzelnen nachzuweisen, wie Bettina in den von ihr in Prosa
verwandelten Sonetten sich nicht einmal die Mühe genommen habe, die Reime
zu beseitigen, und erklärt Bettina's Verfahren wiederholt geradezu als „Betrug".


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0443" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141854"/>
          <p xml:id="ID_1296" prev="#ID_1295"> gedröselte, meta- und paraphrasirte Poem Goethe's seien; man höre das<lb/>
Silbenmaß mit der Wort- und Satzfolge noch hindurch.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1297"> In ein noch gefährlicheres Stadium sür Bettina trat die Angelegenheit,<lb/>
als authentisch nachgewiesen wurde, daß einzelne der Goethischen Sonette durch<lb/>
Minna Herzlich, die jugendliche Pflegetochter des Jenaer Buchhändlers From-<lb/>
mann, angeregt worden find. Ganz zweifellos ist dies mit dem siebzehnten der<lb/>
Fall, der &#x201E;Charade", deren Lösung ja eben der Name &#x201E;Herzlich" ist, ebenso mit<lb/>
dem sechzehnten, &#x201E;Epoche", welches sich auf Goethe's Zusammensein mit Minna<lb/>
in Jena am &#x201E;Advent von Achtzehnhundertsieben" bezieht; und da man auch in<lb/>
dem zehnten, &#x201E;Sie kann nicht enden", welches Bettina ebenfalls beansprucht<lb/>
hatte, in der Zeile: &#x201E;Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!"<lb/>
eine offenbare Anspielung auf deu Namen Herzlich zu sehen glaubte, so war es<lb/>
nun nicht weit mehr bis zu der Annahme, daß der ganze Souetteneyclus auf Minna<lb/>
Herzlich gedichtet sei, und Bettina nicht den mindesten Anspruch darauf habe.<lb/>
Es ist dies die Auffassung, die Schäfer in seinem Leben Goethe's vertreten hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1298"> Eine vermittelnde Ansicht suchte Viehoff in feiner Goethe-Biographie und<lb/>
feinen Erläuterungen zu Goethe's Gedichten zur Geltung zu bringen. Ihm<lb/>
schien es recht wohl in Einklang zu stehen, wenn Goethe in den Briefen sich<lb/>
gehaltener und gemessener zeige, in den Gedichten dagegen einen leidenschaftlichen<lb/>
Ton anschlage. In den Briefen habe er sich eben wahr und seinen wirklichen<lb/>
Empfindungen entsprechend gegeben, in den Sonetten sei er spielend auf die<lb/>
Gefühle Bettina's eingegangen. Von den Briefen, die Riemer blos für prosa¬<lb/>
ische Aufdröselungeu Goethischer Sonette erklärt hatte, meinte Viehoff, daß sie<lb/>
sich in Ton und Ausdrucksweise keineswegs von Bettina's übriger Korrespon¬<lb/>
denz unterscheiden. Ein Theil der Sonette beziehe sich ohne Zweifel auf Minna<lb/>
Herzlich. Aber Goethe habe jedenfalls Bettina's schwärmerische Liebe zu ihm<lb/>
und seine eigene aufkeimeiche Neigung zu Minna in den Sonetten in ähn¬<lb/>
licher Weise verwoben, wie im &#x201E;Werther" die Verhältnisse zu Lotte und zu<lb/>
Maxinnliane. Hieraus erkläre es sich auch, warum sich in der faktischen Unter¬<lb/>
lage des ganzen Sonettenkranzes keine rechte Kongruenz zeige, die Geliebte<lb/>
bald als abwesend, bald als gegenwärtig, bald als schwärmerisch zugethan,<lb/>
bald als zurückhaltend erscheine.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1299"> Dieser Vermittelungsversuch hat eine derbe Zurückweisung durch Düntzer<lb/>
in dessen &#x201E;Erläuterungen zu Goethe's lyrischen Gedichten" erfahren. Düntzer<lb/>
redet von Viehoff's &#x201E;Aberglauben an Bettina" und meint, in seiner Auffassung<lb/>
vermisse man &#x201E;eben so sehr Kenntniß der Thatsachen wie verständiges Urtheil".<lb/>
Er sucht im Einzelnen nachzuweisen, wie Bettina in den von ihr in Prosa<lb/>
verwandelten Sonetten sich nicht einmal die Mühe genommen habe, die Reime<lb/>
zu beseitigen, und erklärt Bettina's Verfahren wiederholt geradezu als &#x201E;Betrug".</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0443] gedröselte, meta- und paraphrasirte Poem Goethe's seien; man höre das Silbenmaß mit der Wort- und Satzfolge noch hindurch. In ein noch gefährlicheres Stadium sür Bettina trat die Angelegenheit, als authentisch nachgewiesen wurde, daß einzelne der Goethischen Sonette durch Minna Herzlich, die jugendliche Pflegetochter des Jenaer Buchhändlers From- mann, angeregt worden find. Ganz zweifellos ist dies mit dem siebzehnten der Fall, der „Charade", deren Lösung ja eben der Name „Herzlich" ist, ebenso mit dem sechzehnten, „Epoche", welches sich auf Goethe's Zusammensein mit Minna in Jena am „Advent von Achtzehnhundertsieben" bezieht; und da man auch in dem zehnten, „Sie kann nicht enden", welches Bettina ebenfalls beansprucht hatte, in der Zeile: „Lieb Kind! Mein artig Herz! Mein einzig Wesen!" eine offenbare Anspielung auf deu Namen Herzlich zu sehen glaubte, so war es nun nicht weit mehr bis zu der Annahme, daß der ganze Souetteneyclus auf Minna Herzlich gedichtet sei, und Bettina nicht den mindesten Anspruch darauf habe. Es ist dies die Auffassung, die Schäfer in seinem Leben Goethe's vertreten hat. Eine vermittelnde Ansicht suchte Viehoff in feiner Goethe-Biographie und feinen Erläuterungen zu Goethe's Gedichten zur Geltung zu bringen. Ihm schien es recht wohl in Einklang zu stehen, wenn Goethe in den Briefen sich gehaltener und gemessener zeige, in den Gedichten dagegen einen leidenschaftlichen Ton anschlage. In den Briefen habe er sich eben wahr und seinen wirklichen Empfindungen entsprechend gegeben, in den Sonetten sei er spielend auf die Gefühle Bettina's eingegangen. Von den Briefen, die Riemer blos für prosa¬ ische Aufdröselungeu Goethischer Sonette erklärt hatte, meinte Viehoff, daß sie sich in Ton und Ausdrucksweise keineswegs von Bettina's übriger Korrespon¬ denz unterscheiden. Ein Theil der Sonette beziehe sich ohne Zweifel auf Minna Herzlich. Aber Goethe habe jedenfalls Bettina's schwärmerische Liebe zu ihm und seine eigene aufkeimeiche Neigung zu Minna in den Sonetten in ähn¬ licher Weise verwoben, wie im „Werther" die Verhältnisse zu Lotte und zu Maxinnliane. Hieraus erkläre es sich auch, warum sich in der faktischen Unter¬ lage des ganzen Sonettenkranzes keine rechte Kongruenz zeige, die Geliebte bald als abwesend, bald als gegenwärtig, bald als schwärmerisch zugethan, bald als zurückhaltend erscheine. Dieser Vermittelungsversuch hat eine derbe Zurückweisung durch Düntzer in dessen „Erläuterungen zu Goethe's lyrischen Gedichten" erfahren. Düntzer redet von Viehoff's „Aberglauben an Bettina" und meint, in seiner Auffassung vermisse man „eben so sehr Kenntniß der Thatsachen wie verständiges Urtheil". Er sucht im Einzelnen nachzuweisen, wie Bettina in den von ihr in Prosa verwandelten Sonetten sich nicht einmal die Mühe genommen habe, die Reime zu beseitigen, und erklärt Bettina's Verfahren wiederholt geradezu als „Betrug".

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/443
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/443>, abgerufen am 25.08.2024.