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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Ebenso allbekannt ist es aber, daß Bettina in dem "Briefwechsel Goethe's
mit einem Kinde", den sie 1834 herausgab, die Korrespondenz veröffentlicht zu
haben behauptete, die sie zwischen 1807 und 1811 mit Goethe geführt hatte.
Sie hatte allerdings nach Goethe's Tode durch den Kanzler v. Müller aus dem
Nachlaß des Dichters ihre eigenen Briefe heraussuchen und sich alle zurückschicken
lassen. Ihr "Briefwechsel" gilt trotzdem heute allgemein als eine Fälschung. Gocthe-
Forscher gehen ihm förmlich aus dem Wege und getrauen sich nicht, für irgend
etwas sich auf ihn als Quelle zu berufen. Man kann zwar die augenscheinliche
Echtheit vieler Partieen nicht anfechten, aber Wahres und Falsches gilt für so
unentwirrbar verfitzt, daß man es für gerathener hält, lieber das ganze Buch
bei Seite zu lassen. Wohin man blickt in der Goethe-Literatur, überall tritt
einem dieses Mißtrauen entgegen.

Der Verdacht regte sich schon, noch ehe der Briefwechsel erschienen war.
In der Widmung desselben an den Fürsten Pückler schreibt Bettina: "Beschützen
Sie diese Blätter, und so treten Sie zwischen mich und das Vorurtheil derer,
die schon jetzt noch eh sie es kennen dies Buch als unecht verdammen und
sich selbst um die Wahrheit betrügen." Geschürt worden ist der Verdacht
dann namentlich durch Riemer, der 1841 im ersten Bande seiner "Mittheilungen
über Goethe" den ganzen Briefwechsel für einen Roman erklärte, welcher von der
Wirklichkeit Zeit, Ort und Umstände entlehne, und zu dessen Heldin Bettina
sich selbst gemacht habe "in eingebildeter, mehr mystisch phantastischer als in
wirklicher Liebe zu Goethe, wenn sie ihn bald vergöttert und anbetet, bald
schilt und persistirt, bald Liebesspuk mit ihm treibt und sich nächtliche Besuche,
Promenaden und Mantelszenen mit ihm austeilte." Als Hauptargument für
die Fälschung wies Riemer auf den Gebrauch hin, den Bettina mit einer
Anzahl Goethischer Gedichte, theils aus den Suleikaliedern, theils aus den
Sonetten, gemacht habe, indem sie diese Gedichte derart in ihren Briefwechsel
"ÄÄ voosoi oder Z, propos eingefugt" habe, daß sie als an sie gerichtet erscheinen
sollen, ja von einer Anzahl Sonette sogar den Schein zu erwecken suche, daß
sie von Goethe aus ihren Briefen herausgedichtet seien. Er hatte hierbei von
den siebzehn Goethischen Sonetten namentlich die drei eng zusammengehörigen
im Auge: 8. "Die Liebende schreibt" (das durch Felix Mendelssohn's Kompo¬
sition populär geworden ist), 9. "Die Liebende abermals" und 10. "Sie kann
nicht enden". Diese leidenschaftlichen Sonette, diese feurigen Lieder, meinte
Riemer, ständen durchaus im Widerspruche mit den gleichzeitigen steifen und
kalten Briefen Goethe's an Bettina. Man könne unmöglich den einen Fuß
im Steigbügel, den anderen auf der platten Erde den Liebesritter spielen.
Von den Briefen Bettina's, aus denen Goethe diese Sonette gemacht haben
solle, könne man umgekehrt dreist behaupten, daß sie nur das in Prosa auf-


Ebenso allbekannt ist es aber, daß Bettina in dem „Briefwechsel Goethe's
mit einem Kinde", den sie 1834 herausgab, die Korrespondenz veröffentlicht zu
haben behauptete, die sie zwischen 1807 und 1811 mit Goethe geführt hatte.
Sie hatte allerdings nach Goethe's Tode durch den Kanzler v. Müller aus dem
Nachlaß des Dichters ihre eigenen Briefe heraussuchen und sich alle zurückschicken
lassen. Ihr „Briefwechsel" gilt trotzdem heute allgemein als eine Fälschung. Gocthe-
Forscher gehen ihm förmlich aus dem Wege und getrauen sich nicht, für irgend
etwas sich auf ihn als Quelle zu berufen. Man kann zwar die augenscheinliche
Echtheit vieler Partieen nicht anfechten, aber Wahres und Falsches gilt für so
unentwirrbar verfitzt, daß man es für gerathener hält, lieber das ganze Buch
bei Seite zu lassen. Wohin man blickt in der Goethe-Literatur, überall tritt
einem dieses Mißtrauen entgegen.

Der Verdacht regte sich schon, noch ehe der Briefwechsel erschienen war.
In der Widmung desselben an den Fürsten Pückler schreibt Bettina: „Beschützen
Sie diese Blätter, und so treten Sie zwischen mich und das Vorurtheil derer,
die schon jetzt noch eh sie es kennen dies Buch als unecht verdammen und
sich selbst um die Wahrheit betrügen." Geschürt worden ist der Verdacht
dann namentlich durch Riemer, der 1841 im ersten Bande seiner „Mittheilungen
über Goethe" den ganzen Briefwechsel für einen Roman erklärte, welcher von der
Wirklichkeit Zeit, Ort und Umstände entlehne, und zu dessen Heldin Bettina
sich selbst gemacht habe „in eingebildeter, mehr mystisch phantastischer als in
wirklicher Liebe zu Goethe, wenn sie ihn bald vergöttert und anbetet, bald
schilt und persistirt, bald Liebesspuk mit ihm treibt und sich nächtliche Besuche,
Promenaden und Mantelszenen mit ihm austeilte." Als Hauptargument für
die Fälschung wies Riemer auf den Gebrauch hin, den Bettina mit einer
Anzahl Goethischer Gedichte, theils aus den Suleikaliedern, theils aus den
Sonetten, gemacht habe, indem sie diese Gedichte derart in ihren Briefwechsel
„ÄÄ voosoi oder Z, propos eingefugt" habe, daß sie als an sie gerichtet erscheinen
sollen, ja von einer Anzahl Sonette sogar den Schein zu erwecken suche, daß
sie von Goethe aus ihren Briefen herausgedichtet seien. Er hatte hierbei von
den siebzehn Goethischen Sonetten namentlich die drei eng zusammengehörigen
im Auge: 8. „Die Liebende schreibt" (das durch Felix Mendelssohn's Kompo¬
sition populär geworden ist), 9. „Die Liebende abermals" und 10. „Sie kann
nicht enden". Diese leidenschaftlichen Sonette, diese feurigen Lieder, meinte
Riemer, ständen durchaus im Widerspruche mit den gleichzeitigen steifen und
kalten Briefen Goethe's an Bettina. Man könne unmöglich den einen Fuß
im Steigbügel, den anderen auf der platten Erde den Liebesritter spielen.
Von den Briefen Bettina's, aus denen Goethe diese Sonette gemacht haben
solle, könne man umgekehrt dreist behaupten, daß sie nur das in Prosa auf-


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[0442] Ebenso allbekannt ist es aber, daß Bettina in dem „Briefwechsel Goethe's mit einem Kinde", den sie 1834 herausgab, die Korrespondenz veröffentlicht zu haben behauptete, die sie zwischen 1807 und 1811 mit Goethe geführt hatte. Sie hatte allerdings nach Goethe's Tode durch den Kanzler v. Müller aus dem Nachlaß des Dichters ihre eigenen Briefe heraussuchen und sich alle zurückschicken lassen. Ihr „Briefwechsel" gilt trotzdem heute allgemein als eine Fälschung. Gocthe- Forscher gehen ihm förmlich aus dem Wege und getrauen sich nicht, für irgend etwas sich auf ihn als Quelle zu berufen. Man kann zwar die augenscheinliche Echtheit vieler Partieen nicht anfechten, aber Wahres und Falsches gilt für so unentwirrbar verfitzt, daß man es für gerathener hält, lieber das ganze Buch bei Seite zu lassen. Wohin man blickt in der Goethe-Literatur, überall tritt einem dieses Mißtrauen entgegen. Der Verdacht regte sich schon, noch ehe der Briefwechsel erschienen war. In der Widmung desselben an den Fürsten Pückler schreibt Bettina: „Beschützen Sie diese Blätter, und so treten Sie zwischen mich und das Vorurtheil derer, die schon jetzt noch eh sie es kennen dies Buch als unecht verdammen und sich selbst um die Wahrheit betrügen." Geschürt worden ist der Verdacht dann namentlich durch Riemer, der 1841 im ersten Bande seiner „Mittheilungen über Goethe" den ganzen Briefwechsel für einen Roman erklärte, welcher von der Wirklichkeit Zeit, Ort und Umstände entlehne, und zu dessen Heldin Bettina sich selbst gemacht habe „in eingebildeter, mehr mystisch phantastischer als in wirklicher Liebe zu Goethe, wenn sie ihn bald vergöttert und anbetet, bald schilt und persistirt, bald Liebesspuk mit ihm treibt und sich nächtliche Besuche, Promenaden und Mantelszenen mit ihm austeilte." Als Hauptargument für die Fälschung wies Riemer auf den Gebrauch hin, den Bettina mit einer Anzahl Goethischer Gedichte, theils aus den Suleikaliedern, theils aus den Sonetten, gemacht habe, indem sie diese Gedichte derart in ihren Briefwechsel „ÄÄ voosoi oder Z, propos eingefugt" habe, daß sie als an sie gerichtet erscheinen sollen, ja von einer Anzahl Sonette sogar den Schein zu erwecken suche, daß sie von Goethe aus ihren Briefen herausgedichtet seien. Er hatte hierbei von den siebzehn Goethischen Sonetten namentlich die drei eng zusammengehörigen im Auge: 8. „Die Liebende schreibt" (das durch Felix Mendelssohn's Kompo¬ sition populär geworden ist), 9. „Die Liebende abermals" und 10. „Sie kann nicht enden". Diese leidenschaftlichen Sonette, diese feurigen Lieder, meinte Riemer, ständen durchaus im Widerspruche mit den gleichzeitigen steifen und kalten Briefen Goethe's an Bettina. Man könne unmöglich den einen Fuß im Steigbügel, den anderen auf der platten Erde den Liebesritter spielen. Von den Briefen Bettina's, aus denen Goethe diese Sonette gemacht haben solle, könne man umgekehrt dreist behaupten, daß sie nur das in Prosa auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/442>, abgerufen am 25.08.2024.