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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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dern der die Thatsachen nach ihren Folgen beurtheilt, erscheint es fast wichtiger,
in wie energischer und rechtschaffner Weise die Regierung bemüht ist, sich
durch Anlegung und Vervollkommnung jeder Art von Schulanstalten das Ma¬
terial für einen tüchtigen Beamtenstand zu schaffen, als daß sie ihrer Zeit die
Leibeigenschaft aufhob.

Der wichtigste Punkt der neuen liberalen russischen Verfassung ist bis zur
Stunde für die ganze Bureaukratie ein todter Buchstabe, der stündlich von
ihr hohnvoll verletzt und mit Füßen getreten wird. Das ist die Gleichheit
Aller vor dem Gesetz. Die Bureaukratie hat as eg,co ihren eigenen eximirten
Gerichtsstand beibehalten wie die Armee und wendet ihn fortwährend an. Das
Volk weiß dies und beurtheilt danach vollkommen, was eine Justiz werth ist,
die einen armen Teufel, der für einen Rubel Kopeken nachmacht, auf 20 Jahre
in die Bleigruben des Ost-Urals, das heißt zu einem qualvollen Martertod
verurtheilt, während ein schurkischer Beamter, der die ersparten Pfennige
hungernder Tagelöhnerwittwen in schlechter Gesellschaft verpraßt, höchstens
versetzt wird; denn ob ihm sonst noch Etwas begegnet, weiß Niemand. Ist
es doch schon schwer genug, eine Klage gegen einen solchen Burschen anzu¬
bringen; die Gerichte sind nicht zum Einschreiten kompetent, und die Vorge¬
setzten des Betreffenden sind vor Allem besorgt, die "Standesehre" zu wahren,
und werfen dem unberufenen Denunzianten nicht nur unfreundliche Blicke zu,
sondern auch gern einen Knüppel zwischen die Beine, über den er garstig
stolpern kann.

Um solchen Uebelständen zu begegnen, perfiel die Negierung Alexander's I.
auf ein Mittel, das seinen Zweck gänzlich verfehlte. Es wurde ein ganzer
Verwaltungszweig geschaffen, der alle übrigen kontroliren sollte. Wer bewachte
aber nun die Wächter? Man wollte das Institut der preußischen Oberrech¬
nungskammer nachahmen, übersah aber dabei, daß der Haupthebel und die
Hauptgarantie dieser von der ganzen Welt als musterhaft fungirend ange¬
sehenen Behörde darin lag, daß sie nebst allen ihren Unterbeamten unter der
schärfsten Kontrole der öffentlichen Meinung und der Gleichheit vor dem Ge¬
setze stand. So drehte man sich in Rußland in einem oiroulus vitiosuZ,
und erst unter Nikolaus I. verfiel man auf ein wirksameres Auskunftsmittel,
das in der That viel zur Hebung des Beamtenstandes in Bezug auf Treue
und Ehrlichkeit gethan hat, für- die öffentliche Moral aber ein niederdrücken¬
des und entwürdigendes Moment enthielt. Dies war die Errichtung eines
bürgerlichen Jnquisitionstribunals, welches entstand, indem man die 3. Sektion
der kaiserlichen Kanzlei, wie der harmlos klingende offizielle Titel heißt, zu
einer Geheimpolizei im großartigsten Maßstabe erweiterte, nach dem Muster
des ersten napoleonischen Kaiserreiches.


Grenzboten I. 1879. 43

dern der die Thatsachen nach ihren Folgen beurtheilt, erscheint es fast wichtiger,
in wie energischer und rechtschaffner Weise die Regierung bemüht ist, sich
durch Anlegung und Vervollkommnung jeder Art von Schulanstalten das Ma¬
terial für einen tüchtigen Beamtenstand zu schaffen, als daß sie ihrer Zeit die
Leibeigenschaft aufhob.

Der wichtigste Punkt der neuen liberalen russischen Verfassung ist bis zur
Stunde für die ganze Bureaukratie ein todter Buchstabe, der stündlich von
ihr hohnvoll verletzt und mit Füßen getreten wird. Das ist die Gleichheit
Aller vor dem Gesetz. Die Bureaukratie hat as eg,co ihren eigenen eximirten
Gerichtsstand beibehalten wie die Armee und wendet ihn fortwährend an. Das
Volk weiß dies und beurtheilt danach vollkommen, was eine Justiz werth ist,
die einen armen Teufel, der für einen Rubel Kopeken nachmacht, auf 20 Jahre
in die Bleigruben des Ost-Urals, das heißt zu einem qualvollen Martertod
verurtheilt, während ein schurkischer Beamter, der die ersparten Pfennige
hungernder Tagelöhnerwittwen in schlechter Gesellschaft verpraßt, höchstens
versetzt wird; denn ob ihm sonst noch Etwas begegnet, weiß Niemand. Ist
es doch schon schwer genug, eine Klage gegen einen solchen Burschen anzu¬
bringen; die Gerichte sind nicht zum Einschreiten kompetent, und die Vorge¬
setzten des Betreffenden sind vor Allem besorgt, die „Standesehre" zu wahren,
und werfen dem unberufenen Denunzianten nicht nur unfreundliche Blicke zu,
sondern auch gern einen Knüppel zwischen die Beine, über den er garstig
stolpern kann.

Um solchen Uebelständen zu begegnen, perfiel die Negierung Alexander's I.
auf ein Mittel, das seinen Zweck gänzlich verfehlte. Es wurde ein ganzer
Verwaltungszweig geschaffen, der alle übrigen kontroliren sollte. Wer bewachte
aber nun die Wächter? Man wollte das Institut der preußischen Oberrech¬
nungskammer nachahmen, übersah aber dabei, daß der Haupthebel und die
Hauptgarantie dieser von der ganzen Welt als musterhaft fungirend ange¬
sehenen Behörde darin lag, daß sie nebst allen ihren Unterbeamten unter der
schärfsten Kontrole der öffentlichen Meinung und der Gleichheit vor dem Ge¬
setze stand. So drehte man sich in Rußland in einem oiroulus vitiosuZ,
und erst unter Nikolaus I. verfiel man auf ein wirksameres Auskunftsmittel,
das in der That viel zur Hebung des Beamtenstandes in Bezug auf Treue
und Ehrlichkeit gethan hat, für- die öffentliche Moral aber ein niederdrücken¬
des und entwürdigendes Moment enthielt. Dies war die Errichtung eines
bürgerlichen Jnquisitionstribunals, welches entstand, indem man die 3. Sektion
der kaiserlichen Kanzlei, wie der harmlos klingende offizielle Titel heißt, zu
einer Geheimpolizei im großartigsten Maßstabe erweiterte, nach dem Muster
des ersten napoleonischen Kaiserreiches.


Grenzboten I. 1879. 43
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/381>, abgerufen am 23.07.2024.