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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Staatshaushalts fehlte. Ganz abgesehen von den kolossalen Summen, die
Favoritenwirthschaft, Habgier und Unredlichkeit verschlungen haben: es genügte
schon die Thatsache, daß keine Ordnung im Finanzwesen herrschte, um den
Mangel herbeizuführen. Hierunter aber litt am schwersten der Beamtenstand.
Seine Gehalte waren bis auf die jüngste Zeit so lächerlich niedrig normirt,
daß es absolut unmöglich war, davon zu leben. Am allerwenigsten kann man
in Rußland billig leben, wenn man höhere Ansprüche an das Leben stellt oder
zu stellen gezwungen ist, als der Stockrusse alten Schlages sie kennt. Es liegt
dies daran, daß fast alle Erfordernisse eines Lebens, wie der gebildete Euro¬
päer es begreift, entweder einer hohen Importsteuer unterliegen, oder ihre
Fabrikation im Lande selbst hoch besteuert ist; wo keins von Beiden der Fall
ist, da tritt die Verrücktheit der Mode ein, die es nicht für "fein" erklärt,
andere Spiegel, Tische, Möbel, Kleiderstoffe als solche mit ausländischer Marke
zu tragen, zu besitzen oder zu verschenken.

Die nationalrussische Kasawaika ist, um nur ein Beispiel zu nennen, eine
Tracht der wohlhabenden Russinnen, die ebenso kleidsam als praktisch, dem
Vermögen wie dem Klima angemessen, bald aus feinem Tuch mit Zobel, bald
aus "Beiderwand" -- halb Linnen, halb Wolle -- mit dem billigen und doch
so wärmenden feinhaarigen Astrachan hergestellt werden kann. Dennoch wollte
ich keiner russischen Beamtenfrau, von der elften Klasse an aufwärts gerechnet,
rathen, mit einer Kasawaika, wie es dem Gehalte ihres Mannes und vielleicht
seiner zahlreichen Familie angemessen wäre, sich in Gesellschaft zu zeigen. Noch
vor zwanzig Jahren betrug der Jahressold eines Stabsoffiziers der Linien¬
infanterie 380, sage dreihnndertachtzig Rubel, die er natürlich nie in Silber,
sondern stets in Papier ausgezahlt erhielt, während der Intendant das Agio
schluckte, das bei einem größeren Truppenverbande jedes Vierteljahr ein Ver¬
mögen repräsentirte. Wenn dies am grünen Holze -- der Armee unter Niko¬
laus -- geschah, dann kann man denken, wie es in den dürren Aesten der
Zivilverwaltung aussah. Der Fremde hörte nur die Besoldungen der Beamten
zu Petersburg oder in den größeren Städten des Westens nennen und sprach
natürlich seine Entrüstung aus, daß so gut besoldete Leute sich nicht scheuten,
unredlichen Erwerbe nachzugehen. Daß der Residenz und der Provinz auch
hierin zweierlei Maß zugetheilt war, erfuhr er nicht.

Wenn man die elenden Soldsätze der niederen Gerichts- und Verwaltnngs-
becimten jener Zeit kennt, dann kann man sich nur wundern, daß die Leute
noch so ehrlich waren, wie sie es waren; denn ihre Ansprüche waren meist
bescheiden. Unter Nikolaus erreichte das Uebel einen so hohen Grad, daß end¬
lich, da die öffentliche Meinung gefälscht und die Presse geknebelt war, das
beleidigte Recht sich einen seltsamen Ausweg suchte -- die Bühne.


Staatshaushalts fehlte. Ganz abgesehen von den kolossalen Summen, die
Favoritenwirthschaft, Habgier und Unredlichkeit verschlungen haben: es genügte
schon die Thatsache, daß keine Ordnung im Finanzwesen herrschte, um den
Mangel herbeizuführen. Hierunter aber litt am schwersten der Beamtenstand.
Seine Gehalte waren bis auf die jüngste Zeit so lächerlich niedrig normirt,
daß es absolut unmöglich war, davon zu leben. Am allerwenigsten kann man
in Rußland billig leben, wenn man höhere Ansprüche an das Leben stellt oder
zu stellen gezwungen ist, als der Stockrusse alten Schlages sie kennt. Es liegt
dies daran, daß fast alle Erfordernisse eines Lebens, wie der gebildete Euro¬
päer es begreift, entweder einer hohen Importsteuer unterliegen, oder ihre
Fabrikation im Lande selbst hoch besteuert ist; wo keins von Beiden der Fall
ist, da tritt die Verrücktheit der Mode ein, die es nicht für „fein" erklärt,
andere Spiegel, Tische, Möbel, Kleiderstoffe als solche mit ausländischer Marke
zu tragen, zu besitzen oder zu verschenken.

Die nationalrussische Kasawaika ist, um nur ein Beispiel zu nennen, eine
Tracht der wohlhabenden Russinnen, die ebenso kleidsam als praktisch, dem
Vermögen wie dem Klima angemessen, bald aus feinem Tuch mit Zobel, bald
aus „Beiderwand" — halb Linnen, halb Wolle — mit dem billigen und doch
so wärmenden feinhaarigen Astrachan hergestellt werden kann. Dennoch wollte
ich keiner russischen Beamtenfrau, von der elften Klasse an aufwärts gerechnet,
rathen, mit einer Kasawaika, wie es dem Gehalte ihres Mannes und vielleicht
seiner zahlreichen Familie angemessen wäre, sich in Gesellschaft zu zeigen. Noch
vor zwanzig Jahren betrug der Jahressold eines Stabsoffiziers der Linien¬
infanterie 380, sage dreihnndertachtzig Rubel, die er natürlich nie in Silber,
sondern stets in Papier ausgezahlt erhielt, während der Intendant das Agio
schluckte, das bei einem größeren Truppenverbande jedes Vierteljahr ein Ver¬
mögen repräsentirte. Wenn dies am grünen Holze — der Armee unter Niko¬
laus — geschah, dann kann man denken, wie es in den dürren Aesten der
Zivilverwaltung aussah. Der Fremde hörte nur die Besoldungen der Beamten
zu Petersburg oder in den größeren Städten des Westens nennen und sprach
natürlich seine Entrüstung aus, daß so gut besoldete Leute sich nicht scheuten,
unredlichen Erwerbe nachzugehen. Daß der Residenz und der Provinz auch
hierin zweierlei Maß zugetheilt war, erfuhr er nicht.

Wenn man die elenden Soldsätze der niederen Gerichts- und Verwaltnngs-
becimten jener Zeit kennt, dann kann man sich nur wundern, daß die Leute
noch so ehrlich waren, wie sie es waren; denn ihre Ansprüche waren meist
bescheiden. Unter Nikolaus erreichte das Uebel einen so hohen Grad, daß end¬
lich, da die öffentliche Meinung gefälscht und die Presse geknebelt war, das
beleidigte Recht sich einen seltsamen Ausweg suchte — die Bühne.


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[0378] Staatshaushalts fehlte. Ganz abgesehen von den kolossalen Summen, die Favoritenwirthschaft, Habgier und Unredlichkeit verschlungen haben: es genügte schon die Thatsache, daß keine Ordnung im Finanzwesen herrschte, um den Mangel herbeizuführen. Hierunter aber litt am schwersten der Beamtenstand. Seine Gehalte waren bis auf die jüngste Zeit so lächerlich niedrig normirt, daß es absolut unmöglich war, davon zu leben. Am allerwenigsten kann man in Rußland billig leben, wenn man höhere Ansprüche an das Leben stellt oder zu stellen gezwungen ist, als der Stockrusse alten Schlages sie kennt. Es liegt dies daran, daß fast alle Erfordernisse eines Lebens, wie der gebildete Euro¬ päer es begreift, entweder einer hohen Importsteuer unterliegen, oder ihre Fabrikation im Lande selbst hoch besteuert ist; wo keins von Beiden der Fall ist, da tritt die Verrücktheit der Mode ein, die es nicht für „fein" erklärt, andere Spiegel, Tische, Möbel, Kleiderstoffe als solche mit ausländischer Marke zu tragen, zu besitzen oder zu verschenken. Die nationalrussische Kasawaika ist, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Tracht der wohlhabenden Russinnen, die ebenso kleidsam als praktisch, dem Vermögen wie dem Klima angemessen, bald aus feinem Tuch mit Zobel, bald aus „Beiderwand" — halb Linnen, halb Wolle — mit dem billigen und doch so wärmenden feinhaarigen Astrachan hergestellt werden kann. Dennoch wollte ich keiner russischen Beamtenfrau, von der elften Klasse an aufwärts gerechnet, rathen, mit einer Kasawaika, wie es dem Gehalte ihres Mannes und vielleicht seiner zahlreichen Familie angemessen wäre, sich in Gesellschaft zu zeigen. Noch vor zwanzig Jahren betrug der Jahressold eines Stabsoffiziers der Linien¬ infanterie 380, sage dreihnndertachtzig Rubel, die er natürlich nie in Silber, sondern stets in Papier ausgezahlt erhielt, während der Intendant das Agio schluckte, das bei einem größeren Truppenverbande jedes Vierteljahr ein Ver¬ mögen repräsentirte. Wenn dies am grünen Holze — der Armee unter Niko¬ laus — geschah, dann kann man denken, wie es in den dürren Aesten der Zivilverwaltung aussah. Der Fremde hörte nur die Besoldungen der Beamten zu Petersburg oder in den größeren Städten des Westens nennen und sprach natürlich seine Entrüstung aus, daß so gut besoldete Leute sich nicht scheuten, unredlichen Erwerbe nachzugehen. Daß der Residenz und der Provinz auch hierin zweierlei Maß zugetheilt war, erfuhr er nicht. Wenn man die elenden Soldsätze der niederen Gerichts- und Verwaltnngs- becimten jener Zeit kennt, dann kann man sich nur wundern, daß die Leute noch so ehrlich waren, wie sie es waren; denn ihre Ansprüche waren meist bescheiden. Unter Nikolaus erreichte das Uebel einen so hohen Grad, daß end¬ lich, da die öffentliche Meinung gefälscht und die Presse geknebelt war, das beleidigte Recht sich einen seltsamen Ausweg suchte — die Bühne.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/378>, abgerufen am 23.07.2024.