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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Wahrheit von seinem Besuche in Ehrenbreitstein erzählt, "mehrere Schatullen
bei sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten;
denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen,
daß man mit keinem Einzelnen sprechen oder an ihn schreiben konnte, ohne es
zugleich als an Mehrere gerichtet zu betrachten." Da galt es natürlich Vor¬
sicht und Zurückhaltung, und Goethe wußte bei aller seiner damaligen Auf¬
geregtheit doch diese Vorsicht sehr wohl zu üben. Am wenigsten aber war ein
literarischer Wallfahrtsort wie das Haus La Roche eine Stätte für Geheim¬
nisse. Die Mittheilsamkeit seiner Freundin, die Goethe bald durchschaute, legte
allen seinen Aeußerungen die größte Zurückhaltung auf. Die Briefe Goethe's
aus jener Zeit sind ja fast alle ohne eingehenden Kommentar nur halb und
halb zu genießen und keineswegs vollständig zu verstehen, und so fein auch
Bernays in seinem Vorwort zum "Jungen Goethe" es zu rechtfertigen gesucht
hat, daß in dieser Sammlung von einem Kommentar ganz abgesehen worden
ist, so liebenswürdig auch die Absicht erscheint, den Leser mit dem Dichter allein
zu lassen und ihre Zwiesprach nicht durch dolmetschendes Dreinreden zu stören,
so vieles auch, was auf den ersten Blick unverständlich bleibt, dem sorgfältigen
und ausdauernden Leser sich nach und nach gegenseitig erklärt, so bleibt doch
eben schließlich ein ziemlich bedeutender Rest, der ohne Hilfe nicht zu verstehen
und wissenschaftlich zu benutzen ist. Die vorliegenden Briefe an Sophie La
Roche aber würden dem Leser geradezu zum guten Theil Räthsel bleiben, wenn
ihnen Loeper nicht seinen musterhaften Kommentar mitgegeben hätte.

Daß nach neuen Goethebriefen aus den Jahren 1772--1775 jeder mit
größter Spannung greifen wird, ist wohl selbstverständlich. "Die knospende,
blüthenprangende Frühlingszeit Goethe's" hat Hettner diese Jahre genannt. Und
wahrlich, welche überquellende dichterische Fruchtbarkeit drängt in diese wenigen
Jahre sich zusammen! "Götz", "Werther", "Clavigo", "Erwin und Elwire", "Stella",
die Anfänge des "Egmont", die satirischen Possen und Fastnachtsspiele, die
Entwürfe zum "Mahomet" und zum "Ewigen Juden", "Prometheus", eine Reihe
der innigsten Lieder und Balladen, und, was so oft übersehen wird, sast der
ganze erste Theil des "Faust" -- alles dies se in den paar Jahren entstanden.
Daß von alledem in unseren Briefen sich Spuren finden sollten, wird wohl
niemand erwarten. Aber zu manchem davon, namentlich zu "Götz" und "Werther",
bringen sie allerdings willkommene Beitrüge. Auch von literarischen Größen
huschen eine ganze Reihe an unsern Blicken vorbei: Wieland, Klopstock, Herder,
Lavater, Lenz u. a.; die Tendenzen der Sturm- und Drangperiode treten auf
jedem Blatte hervor, namentlich lassen sich die Konflikte Wieland's mit den
jüngeren Dichtern ein paar mal verfolgen. Auch die Herzensbedrängniß mit Lili,
die Schweizerreise, auf der er ihr entfloh, die Vorbereitungen zum Weggange


Grenzboten I> 1879. 45

Wahrheit von seinem Besuche in Ehrenbreitstein erzählt, „mehrere Schatullen
bei sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten;
denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen,
daß man mit keinem Einzelnen sprechen oder an ihn schreiben konnte, ohne es
zugleich als an Mehrere gerichtet zu betrachten." Da galt es natürlich Vor¬
sicht und Zurückhaltung, und Goethe wußte bei aller seiner damaligen Auf¬
geregtheit doch diese Vorsicht sehr wohl zu üben. Am wenigsten aber war ein
literarischer Wallfahrtsort wie das Haus La Roche eine Stätte für Geheim¬
nisse. Die Mittheilsamkeit seiner Freundin, die Goethe bald durchschaute, legte
allen seinen Aeußerungen die größte Zurückhaltung auf. Die Briefe Goethe's
aus jener Zeit sind ja fast alle ohne eingehenden Kommentar nur halb und
halb zu genießen und keineswegs vollständig zu verstehen, und so fein auch
Bernays in seinem Vorwort zum „Jungen Goethe" es zu rechtfertigen gesucht
hat, daß in dieser Sammlung von einem Kommentar ganz abgesehen worden
ist, so liebenswürdig auch die Absicht erscheint, den Leser mit dem Dichter allein
zu lassen und ihre Zwiesprach nicht durch dolmetschendes Dreinreden zu stören,
so vieles auch, was auf den ersten Blick unverständlich bleibt, dem sorgfältigen
und ausdauernden Leser sich nach und nach gegenseitig erklärt, so bleibt doch
eben schließlich ein ziemlich bedeutender Rest, der ohne Hilfe nicht zu verstehen
und wissenschaftlich zu benutzen ist. Die vorliegenden Briefe an Sophie La
Roche aber würden dem Leser geradezu zum guten Theil Räthsel bleiben, wenn
ihnen Loeper nicht seinen musterhaften Kommentar mitgegeben hätte.

Daß nach neuen Goethebriefen aus den Jahren 1772—1775 jeder mit
größter Spannung greifen wird, ist wohl selbstverständlich. „Die knospende,
blüthenprangende Frühlingszeit Goethe's" hat Hettner diese Jahre genannt. Und
wahrlich, welche überquellende dichterische Fruchtbarkeit drängt in diese wenigen
Jahre sich zusammen! „Götz", „Werther", „Clavigo", „Erwin und Elwire", „Stella",
die Anfänge des „Egmont", die satirischen Possen und Fastnachtsspiele, die
Entwürfe zum „Mahomet" und zum „Ewigen Juden", „Prometheus", eine Reihe
der innigsten Lieder und Balladen, und, was so oft übersehen wird, sast der
ganze erste Theil des „Faust" — alles dies se in den paar Jahren entstanden.
Daß von alledem in unseren Briefen sich Spuren finden sollten, wird wohl
niemand erwarten. Aber zu manchem davon, namentlich zu „Götz" und „Werther",
bringen sie allerdings willkommene Beitrüge. Auch von literarischen Größen
huschen eine ganze Reihe an unsern Blicken vorbei: Wieland, Klopstock, Herder,
Lavater, Lenz u. a.; die Tendenzen der Sturm- und Drangperiode treten auf
jedem Blatte hervor, namentlich lassen sich die Konflikte Wieland's mit den
jüngeren Dichtern ein paar mal verfolgen. Auch die Herzensbedrängniß mit Lili,
die Schweizerreise, auf der er ihr entfloh, die Vorbereitungen zum Weggange


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[0357] Wahrheit von seinem Besuche in Ehrenbreitstein erzählt, „mehrere Schatullen bei sich, welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten; denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den Menschen, daß man mit keinem Einzelnen sprechen oder an ihn schreiben konnte, ohne es zugleich als an Mehrere gerichtet zu betrachten." Da galt es natürlich Vor¬ sicht und Zurückhaltung, und Goethe wußte bei aller seiner damaligen Auf¬ geregtheit doch diese Vorsicht sehr wohl zu üben. Am wenigsten aber war ein literarischer Wallfahrtsort wie das Haus La Roche eine Stätte für Geheim¬ nisse. Die Mittheilsamkeit seiner Freundin, die Goethe bald durchschaute, legte allen seinen Aeußerungen die größte Zurückhaltung auf. Die Briefe Goethe's aus jener Zeit sind ja fast alle ohne eingehenden Kommentar nur halb und halb zu genießen und keineswegs vollständig zu verstehen, und so fein auch Bernays in seinem Vorwort zum „Jungen Goethe" es zu rechtfertigen gesucht hat, daß in dieser Sammlung von einem Kommentar ganz abgesehen worden ist, so liebenswürdig auch die Absicht erscheint, den Leser mit dem Dichter allein zu lassen und ihre Zwiesprach nicht durch dolmetschendes Dreinreden zu stören, so vieles auch, was auf den ersten Blick unverständlich bleibt, dem sorgfältigen und ausdauernden Leser sich nach und nach gegenseitig erklärt, so bleibt doch eben schließlich ein ziemlich bedeutender Rest, der ohne Hilfe nicht zu verstehen und wissenschaftlich zu benutzen ist. Die vorliegenden Briefe an Sophie La Roche aber würden dem Leser geradezu zum guten Theil Räthsel bleiben, wenn ihnen Loeper nicht seinen musterhaften Kommentar mitgegeben hätte. Daß nach neuen Goethebriefen aus den Jahren 1772—1775 jeder mit größter Spannung greifen wird, ist wohl selbstverständlich. „Die knospende, blüthenprangende Frühlingszeit Goethe's" hat Hettner diese Jahre genannt. Und wahrlich, welche überquellende dichterische Fruchtbarkeit drängt in diese wenigen Jahre sich zusammen! „Götz", „Werther", „Clavigo", „Erwin und Elwire", „Stella", die Anfänge des „Egmont", die satirischen Possen und Fastnachtsspiele, die Entwürfe zum „Mahomet" und zum „Ewigen Juden", „Prometheus", eine Reihe der innigsten Lieder und Balladen, und, was so oft übersehen wird, sast der ganze erste Theil des „Faust" — alles dies se in den paar Jahren entstanden. Daß von alledem in unseren Briefen sich Spuren finden sollten, wird wohl niemand erwarten. Aber zu manchem davon, namentlich zu „Götz" und „Werther", bringen sie allerdings willkommene Beitrüge. Auch von literarischen Größen huschen eine ganze Reihe an unsern Blicken vorbei: Wieland, Klopstock, Herder, Lavater, Lenz u. a.; die Tendenzen der Sturm- und Drangperiode treten auf jedem Blatte hervor, namentlich lassen sich die Konflikte Wieland's mit den jüngeren Dichtern ein paar mal verfolgen. Auch die Herzensbedrängniß mit Lili, die Schweizerreise, auf der er ihr entfloh, die Vorbereitungen zum Weggange Grenzboten I> 1879. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/357>, abgerufen am 23.07.2024.