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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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litte Vollständigkeit erreicht es nicht und konnte es nicht erstreben. Denn uner¬
meßlich ist im Deutschen die Menge von Wortverzweigungen und Wortver¬
wendungen, täglich entwickelt sich Neues in dem Schöpfungsprozeß der Sprache,
nie tritt ein Stillstand ein, und so ist ein Verzeichnen aller Gestaltungen dieser
Thätigkeit des Nationalgeistes ungefähr ebensosehr ein Ding der Unmöglichkeit,
wie das Zählen der Blätter eines Waldes. Aber das Menschenmögliche ist
geleistet worden, und wenn das riesige Werk vollendet sein wird, werden wir
in ihm einen Schatz besitzen, wie kein anderes Volk ans Erden.

Wann aber wird es vollendet sein? Der folgende Blick auf die Geschichte
des Unternehmens mag geeignet sein, Anhaltepunkte zur Beantwortung dieser
Frage zu geben und manche Bedenken, die in den letzten Jahren im Hinblick
auf das langsame Fortschreiten einzelner Abtheilungen entstanden sein könnten,
in erfreulichster Weise zu zerstreuen.

. Die Weidmann'sche Buchhandlung regte vor etwa vierzig Jahren den
Plan zu dem großen Wörterbuche an. Die Vertreibung der Gebrüder Grimm
von ihren Göttinger Lehrstühlen gab ihnen Muße, zur Ausführung derselben
zu schreiten. Die Regierung Preußen's stellte das nationale Unternehmen, in¬
dem sie den beiden Hauptarbeitern an demselben eine sorgenfreie Stellung ge¬
währte, uuter günstige Sterne. Vierzehn Jahre dauerten die Vorbereitungen,
welche das gewaltige Werk erforderte. Regste Betheiligung war die Antwort,
welche auf die Aufforderung der Gebrüder Grimm zur Mitarbeit durch Sammlung
von Stoff von Seiten der Philologen Deutschland's erfolgte. Auch andere Gelehrte,
darunter Groß- und Kleindeutsche, Liberale und Konservative, Schwaben, Ost-
Preußen, Hannoveraner u. a. wirkten mit bereitwilligem Fleiße durch Ausziehen
der ihnen zugewiesenen Schriftsteller für das Wörterbuch mit. Wie ein kleiner
Berg schichtete sich das ans diesem Wege gewonnene Material auf; denn es
mögen nicht weniger als eine Million jener Zettel von bestimmter Länge und
Breite eingegangen sein, auf welche diese Gehilfen ihre Exzerpte zu schreiben
gebeten waren. Volle sechs Monate hindurch nahm das Sortiren der Beiträge
nach dem Alphabet die Thätigkeit der beiden damit Beauftragten in Anspruch,
und jetzt erst konnten die Verfasser des Wörterbuchs mit ihrer eigentlichen Arbeit
beginnen. Die Verzeichnisse der Quellen, aus denen das ihnen übersandte
Material geschöpft war, umfaßten dreiundvierzig enggedruckte Spalten größten
Formats. Dafür erkannte man aber auch in dem Werke, als 1852 seine erste
Lieferung erschien, sofort eine Leistung, die auf dem Gebiete der Sprachwissen¬
schaft einzig dasteht und in keinem Wörterbuche der Welt etwas auch nur
entfernt Ebenbürtiges neben sich hat. Es war ein Bild vom Leben unserer
Sprache seit der Zeit Luther's, wo jedes Wort seine besondere Geschichte hatte,
ein Werk, das sich die Aufgabe gestellt, den gestimmten Organismus der deutschen


litte Vollständigkeit erreicht es nicht und konnte es nicht erstreben. Denn uner¬
meßlich ist im Deutschen die Menge von Wortverzweigungen und Wortver¬
wendungen, täglich entwickelt sich Neues in dem Schöpfungsprozeß der Sprache,
nie tritt ein Stillstand ein, und so ist ein Verzeichnen aller Gestaltungen dieser
Thätigkeit des Nationalgeistes ungefähr ebensosehr ein Ding der Unmöglichkeit,
wie das Zählen der Blätter eines Waldes. Aber das Menschenmögliche ist
geleistet worden, und wenn das riesige Werk vollendet sein wird, werden wir
in ihm einen Schatz besitzen, wie kein anderes Volk ans Erden.

Wann aber wird es vollendet sein? Der folgende Blick auf die Geschichte
des Unternehmens mag geeignet sein, Anhaltepunkte zur Beantwortung dieser
Frage zu geben und manche Bedenken, die in den letzten Jahren im Hinblick
auf das langsame Fortschreiten einzelner Abtheilungen entstanden sein könnten,
in erfreulichster Weise zu zerstreuen.

. Die Weidmann'sche Buchhandlung regte vor etwa vierzig Jahren den
Plan zu dem großen Wörterbuche an. Die Vertreibung der Gebrüder Grimm
von ihren Göttinger Lehrstühlen gab ihnen Muße, zur Ausführung derselben
zu schreiten. Die Regierung Preußen's stellte das nationale Unternehmen, in¬
dem sie den beiden Hauptarbeitern an demselben eine sorgenfreie Stellung ge¬
währte, uuter günstige Sterne. Vierzehn Jahre dauerten die Vorbereitungen,
welche das gewaltige Werk erforderte. Regste Betheiligung war die Antwort,
welche auf die Aufforderung der Gebrüder Grimm zur Mitarbeit durch Sammlung
von Stoff von Seiten der Philologen Deutschland's erfolgte. Auch andere Gelehrte,
darunter Groß- und Kleindeutsche, Liberale und Konservative, Schwaben, Ost-
Preußen, Hannoveraner u. a. wirkten mit bereitwilligem Fleiße durch Ausziehen
der ihnen zugewiesenen Schriftsteller für das Wörterbuch mit. Wie ein kleiner
Berg schichtete sich das ans diesem Wege gewonnene Material auf; denn es
mögen nicht weniger als eine Million jener Zettel von bestimmter Länge und
Breite eingegangen sein, auf welche diese Gehilfen ihre Exzerpte zu schreiben
gebeten waren. Volle sechs Monate hindurch nahm das Sortiren der Beiträge
nach dem Alphabet die Thätigkeit der beiden damit Beauftragten in Anspruch,
und jetzt erst konnten die Verfasser des Wörterbuchs mit ihrer eigentlichen Arbeit
beginnen. Die Verzeichnisse der Quellen, aus denen das ihnen übersandte
Material geschöpft war, umfaßten dreiundvierzig enggedruckte Spalten größten
Formats. Dafür erkannte man aber auch in dem Werke, als 1852 seine erste
Lieferung erschien, sofort eine Leistung, die auf dem Gebiete der Sprachwissen¬
schaft einzig dasteht und in keinem Wörterbuche der Welt etwas auch nur
entfernt Ebenbürtiges neben sich hat. Es war ein Bild vom Leben unserer
Sprache seit der Zeit Luther's, wo jedes Wort seine besondere Geschichte hatte,
ein Werk, das sich die Aufgabe gestellt, den gestimmten Organismus der deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/329>, abgerufen am 23.07.2024.