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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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an, die bisher meist noch unveröffentlicht geblieben sind, deren Inhalt aber,
nach den vorliegenden Proben und nach dem Charakter und der Stellung des
Schreibers zu schließen, ebenfalls viel des Interessanten bieten dürfte. Sie
datiren aus der Zeit des Wiener Kongresses und stehen mit diesem selbst, mit
den zu jener Zeit und bei jener Gelegenheit maßgebenden Persönlichkeiten in
enger Verbindung. Aber wie kam -- wird man mit einigem Erstaunen
fragen -- der ehemalige Majestätsverbrecher und Frevler wider die öster¬
reichische Staatshoheit wieder nach Wien und gar in Beziehungen zu den
Diplomaten, Ministern und Staatswürdenträgern des Kongresses? Die Zeiten
hatten sich eben geändert, ist die Antwort, und die Menschen mit ihnen! Die
ungeheure Schule der Noth, welche die europäische Staatsordnung zwei Dezen¬
nien hindurch hatte durchmachen müssen, hatte für den Angenblick wenigstens
so viel Frucht getragen, daß auch die Staatsleiter nicht geneigt waren, alten
verblichenen Unbilden allzu ängstlich nachzurechnen. Die Pedanterie konnte
sich noch nicht wieder so breit machen, die Rachsucht war noch nicht genügend
erstarkt, um ihrerseits die Abrechnung in jedem einzelnen Falle zu beginnen.
Dem Anbruch einer neuen Zeit gegenüber, die sich unausweichlich vor die Be¬
wältigung großer materieller, durch die Finanznoth äußerst verwickelt gewor¬
dener Aufgaben gestellt sah, richtete sich das Auge des praktischen Staats¬
mannes auf jede leistungsfähige Kraft, und eine solche war Bollmann in emi¬
nenten Grade. Die Schicksale, die er seit seinen Jugendstürmen durchlebt,
hatten dazu beigetragen, seinen Blick für die Verhältnisse des praktischen Lebens
zu schärfen, und seinen Talenten die vielseitigste Ausbildung gegeben. In
Amerika, wohin er um 1797 mit seinen Brüdern übergesiedelt war, hatte er
mit diesen zusammen ein Handlungshaus gegründet, dessen Geschäfte bald einen
außergewöhnlich günstigen Aufschwung nahmen. Dieser Umstand nicht minder
wie seine persönliche Tüchtigkeit verhalfen ihm in kurzer Zeit zu bedeutendem
Ansehen und Wohlstand.*) Als er nach einer Reihe von Jahren, nach dem
Tode seiner Frau, Europa wiederzusehen wünschte, stand er im Mittelpunkte
einer Reihe von großartigen Unternehmungen, die ihn in nahe Beziehungen
mit den ersten Finanzhäusern, namentlich auch mit dem großen Hause Baring
brachten. Das lebhafte Interesse, welches er dabei gleichzeitig der Politik seines
neuen Heimatlandes widmete, sowie der Einfluß feiner Stellung bewirkten, daß
sich ihm die leitenden politischen Kreise in England erschlossen. Lord Castlereagh
widmete ihm besonderes Interesse. So konnte es nicht fehlen, daß er auf seine



*) So nach den Angaben Varnhagen's. Nach einer Studie Wer Bollmann, die
Fr. Kapp im Januarheft der "Deutschen Rundschau" veröffentlicht hat, mußte Bollmann zu
Anfang des Jahrhunderts in Folge von Verlusten sein Geschäft aufgeben, wobei er von
Lafayette 6000 Dollars erhielt, um seine Gläubiger befriedigen zu können.

an, die bisher meist noch unveröffentlicht geblieben sind, deren Inhalt aber,
nach den vorliegenden Proben und nach dem Charakter und der Stellung des
Schreibers zu schließen, ebenfalls viel des Interessanten bieten dürfte. Sie
datiren aus der Zeit des Wiener Kongresses und stehen mit diesem selbst, mit
den zu jener Zeit und bei jener Gelegenheit maßgebenden Persönlichkeiten in
enger Verbindung. Aber wie kam — wird man mit einigem Erstaunen
fragen — der ehemalige Majestätsverbrecher und Frevler wider die öster¬
reichische Staatshoheit wieder nach Wien und gar in Beziehungen zu den
Diplomaten, Ministern und Staatswürdenträgern des Kongresses? Die Zeiten
hatten sich eben geändert, ist die Antwort, und die Menschen mit ihnen! Die
ungeheure Schule der Noth, welche die europäische Staatsordnung zwei Dezen¬
nien hindurch hatte durchmachen müssen, hatte für den Angenblick wenigstens
so viel Frucht getragen, daß auch die Staatsleiter nicht geneigt waren, alten
verblichenen Unbilden allzu ängstlich nachzurechnen. Die Pedanterie konnte
sich noch nicht wieder so breit machen, die Rachsucht war noch nicht genügend
erstarkt, um ihrerseits die Abrechnung in jedem einzelnen Falle zu beginnen.
Dem Anbruch einer neuen Zeit gegenüber, die sich unausweichlich vor die Be¬
wältigung großer materieller, durch die Finanznoth äußerst verwickelt gewor¬
dener Aufgaben gestellt sah, richtete sich das Auge des praktischen Staats¬
mannes auf jede leistungsfähige Kraft, und eine solche war Bollmann in emi¬
nenten Grade. Die Schicksale, die er seit seinen Jugendstürmen durchlebt,
hatten dazu beigetragen, seinen Blick für die Verhältnisse des praktischen Lebens
zu schärfen, und seinen Talenten die vielseitigste Ausbildung gegeben. In
Amerika, wohin er um 1797 mit seinen Brüdern übergesiedelt war, hatte er
mit diesen zusammen ein Handlungshaus gegründet, dessen Geschäfte bald einen
außergewöhnlich günstigen Aufschwung nahmen. Dieser Umstand nicht minder
wie seine persönliche Tüchtigkeit verhalfen ihm in kurzer Zeit zu bedeutendem
Ansehen und Wohlstand.*) Als er nach einer Reihe von Jahren, nach dem
Tode seiner Frau, Europa wiederzusehen wünschte, stand er im Mittelpunkte
einer Reihe von großartigen Unternehmungen, die ihn in nahe Beziehungen
mit den ersten Finanzhäusern, namentlich auch mit dem großen Hause Baring
brachten. Das lebhafte Interesse, welches er dabei gleichzeitig der Politik seines
neuen Heimatlandes widmete, sowie der Einfluß feiner Stellung bewirkten, daß
sich ihm die leitenden politischen Kreise in England erschlossen. Lord Castlereagh
widmete ihm besonderes Interesse. So konnte es nicht fehlen, daß er auf seine



*) So nach den Angaben Varnhagen's. Nach einer Studie Wer Bollmann, die
Fr. Kapp im Januarheft der „Deutschen Rundschau" veröffentlicht hat, mußte Bollmann zu
Anfang des Jahrhunderts in Folge von Verlusten sein Geschäft aufgeben, wobei er von
Lafayette 6000 Dollars erhielt, um seine Gläubiger befriedigen zu können.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/322>, abgerufen am 23.07.2024.