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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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bestimmten Richtungen ausgeprägte Persönlichkeit fehle, wohl begründet sein.
Nur dadurch erklärt sich ja das auch oft von einheimischen Schriftstellern ge¬
rügte Nachahmen fremdländischen Wesens, das Durchsetzen unserer Sprache mit
fremden Elementen, der Hang, Fremdes dem Einheimischen vorzuziehen, nur
weil es fremd ist. Eine Folge dieser Eigenthümlichkeit ist es auch, wenn
deutsche Auswanderer sehr bald, z. B. in den Vereinigten Staaten sich auf¬
fallend verändern und nicht nur die Sprache, sondern auch das Wesen des
Dankes annehmen. Schmerzlich berührt die öfters auch von anderen Seiten
hervorgehobene Thatsache, daß die in Amerika geborenen Kinder deutscher Aus¬
wanderer kaum ihre Muttersprache verstehen, geschweige denu sprechen. Wie
anders die romanischen Völker! Mit welcher Festigkeit und Zähigkeit diese
an ihrer Sprache und Gesittung festhalten, dafür seien als Beispiel nur die
französischen Kolonisten Canada's am Loreuzostrom erwähnt, die, obwohl seit
mehr als einem Jahrhundert englisch geworden, doch bis heute noch ihre fran¬
zösische Sprache reden und in ihrer ganzen Lebensweise von ihren englisch¬
amerikanischen Nachbarn sich vortheilhaft unterscheiden.

Die Rolle, welche die deutsche Nationalität in der Geschichte gespielt hat,
gehört nach Reclus' Auffassung zu den bedeutsamsten: Germanen waren es,
die das römische Weltreich über den Haufen warfen und Träger einer neuen
Kultur wurden. Im Mittelalter aber gewannen die süddeutschen Städte durch
ihre weitverzweigten Handelsbeziehungen besonders zu den italienischen Städten,
sowie durch ihre innere Selbständigkeit, ihren Gewerbfleiß und Kunstsinn eine
hohe Bedeutung; Städte wie Augsburg, Nürnberg, Ulm, Straßburg verdienen
unter den ersten genannt zu werden und brauchen den Vergleich mit Venedig
und Genua nicht zu scheuen. Und war es nicht eine deutsche Stadt, die den
Ruhm beanspruchen darf, der Welt das erste gedruckte Buch geschenkt zu haben?
Aber der Beginn der Neuzeit, die Ausdehnung des geographischen Horizontes
und die Erweiterung des geistigen durch die Reformation und die Wiederbe¬
lebung der klassischen Sprachen brachte für dieses blühende Städteleben den
Verfall. Die Ausbreitung der Mnselmanen schnitt den Verkehr mit Indien
ab, und der neuen Handelswege über den atlantischen Ozean bemächtigten sich
diejenigen Nationen, welche dem Ozean selbst näher lagen, die Spanier, Hol¬
länder und später die Engländer. So waren die großartigen Handelsbezie¬
hungen durchschnitten, und die deutschen Städte, sich selbst überlassen und dem
Druck unglücklicher innerer Zerspaltungen ausgesetzt, mußten von ihrer Höhe
herabsinken. Auf diesen Fall aber folgte die Unglückszeit des 17. und der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in dem Werke des Ausländers mit so
scharfen und doch so richtigen Zügen dargestellt zu sehen doppelt schmerzlich
berührt, nachdem wenige Seiten vorher ein glänzendes Bild von der hohen


bestimmten Richtungen ausgeprägte Persönlichkeit fehle, wohl begründet sein.
Nur dadurch erklärt sich ja das auch oft von einheimischen Schriftstellern ge¬
rügte Nachahmen fremdländischen Wesens, das Durchsetzen unserer Sprache mit
fremden Elementen, der Hang, Fremdes dem Einheimischen vorzuziehen, nur
weil es fremd ist. Eine Folge dieser Eigenthümlichkeit ist es auch, wenn
deutsche Auswanderer sehr bald, z. B. in den Vereinigten Staaten sich auf¬
fallend verändern und nicht nur die Sprache, sondern auch das Wesen des
Dankes annehmen. Schmerzlich berührt die öfters auch von anderen Seiten
hervorgehobene Thatsache, daß die in Amerika geborenen Kinder deutscher Aus¬
wanderer kaum ihre Muttersprache verstehen, geschweige denu sprechen. Wie
anders die romanischen Völker! Mit welcher Festigkeit und Zähigkeit diese
an ihrer Sprache und Gesittung festhalten, dafür seien als Beispiel nur die
französischen Kolonisten Canada's am Loreuzostrom erwähnt, die, obwohl seit
mehr als einem Jahrhundert englisch geworden, doch bis heute noch ihre fran¬
zösische Sprache reden und in ihrer ganzen Lebensweise von ihren englisch¬
amerikanischen Nachbarn sich vortheilhaft unterscheiden.

Die Rolle, welche die deutsche Nationalität in der Geschichte gespielt hat,
gehört nach Reclus' Auffassung zu den bedeutsamsten: Germanen waren es,
die das römische Weltreich über den Haufen warfen und Träger einer neuen
Kultur wurden. Im Mittelalter aber gewannen die süddeutschen Städte durch
ihre weitverzweigten Handelsbeziehungen besonders zu den italienischen Städten,
sowie durch ihre innere Selbständigkeit, ihren Gewerbfleiß und Kunstsinn eine
hohe Bedeutung; Städte wie Augsburg, Nürnberg, Ulm, Straßburg verdienen
unter den ersten genannt zu werden und brauchen den Vergleich mit Venedig
und Genua nicht zu scheuen. Und war es nicht eine deutsche Stadt, die den
Ruhm beanspruchen darf, der Welt das erste gedruckte Buch geschenkt zu haben?
Aber der Beginn der Neuzeit, die Ausdehnung des geographischen Horizontes
und die Erweiterung des geistigen durch die Reformation und die Wiederbe¬
lebung der klassischen Sprachen brachte für dieses blühende Städteleben den
Verfall. Die Ausbreitung der Mnselmanen schnitt den Verkehr mit Indien
ab, und der neuen Handelswege über den atlantischen Ozean bemächtigten sich
diejenigen Nationen, welche dem Ozean selbst näher lagen, die Spanier, Hol¬
länder und später die Engländer. So waren die großartigen Handelsbezie¬
hungen durchschnitten, und die deutschen Städte, sich selbst überlassen und dem
Druck unglücklicher innerer Zerspaltungen ausgesetzt, mußten von ihrer Höhe
herabsinken. Auf diesen Fall aber folgte die Unglückszeit des 17. und der
ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in dem Werke des Ausländers mit so
scharfen und doch so richtigen Zügen dargestellt zu sehen doppelt schmerzlich
berührt, nachdem wenige Seiten vorher ein glänzendes Bild von der hohen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/274>, abgerufen am 23.07.2024.