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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Als der "Golos" im Sommer vorigen Jahres unter dem Eindrucke der
russischen Niederlagen die Worte aussprach: "Weder Frankreich noch England
haben Rußland in der Krim besiegt, sondern seine eigene Verwaltung", wurde
er deswegen mit Unterdrückung bestraft. Die Zeitung wurde auf einige
Monate suspendirt. Wer daraus schließen wollte, daß der Ausspruch eine
große Wahrheit enthalten, würde allerdings irren, aber er legte den Finger
auf eine offene Wunde, und das schmerzt den Betroffenen und beweist minde¬
stens das Vorhandensein einer wunden Stelle.

Weder 1855 noch 1877 hat die schlechte Verwaltung die Niederlagen
Rußland's allein verschuldet, aber unstreitig war sie vorhanden. Will man
jedoch gerecht sein, so muß man zugeben, daß kein Land der Welt, vielleicht
Japan ausgenommen, in den letzten 20 Jahren so tiefgreifende Veränderungen
durchgemacht hat, wie Rußland. Zwischen der Intendantur von 1855 und
der von 1877 ist denn doch ein himmelweiter Unterschied, und die Armeever¬
pflegung ist doch nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil der riesenhaften Ver¬
waltungsmaschine des Achtzig-Millionenreiches, Während 1855 die Versetzung
zweier russischer Regimenter in der Weise ausgeführt wurde, daß die Obersten
derselben die Achselklappen und Nummernknöpfe abtrennen ließen und mit ein¬
ander vertauschten, indem sie die Kosten des Garnisonwechsels einfach mit den
betreffenden Finanzbeamten theilten, waren die 1877 vorgekommenen Unter-
schleife von der Art, wie sie bei jedem Kriege, in jeder Armee vorkommen
können, welche ihre Verpflegung einseitig dem Lieferantensystem anheimstellt.
Man denke doch an die ähnlichen Vorfälle in der französischen, österreichischen,
amerikanischen, englischen Armee. Wenn die deutsche Heeresverwaltung in
neuerer Zeit davon verschont geblieben ist, ähnliche trübe Erfahrungen in
großem Maßstabe zu machen, so dankt sie dies weniger der außerordentlichen
Biederkeit der deutschen Lieferanten, als einem besser eingerichteten System.
Wie es früher bei uns damit bestellt war, darüber kann man sich leicht be¬
lehren bei zwei Militärs, denen eine gewisse Sachkenntniß hierin gewiß nicht
abzusprechen ist: bei Friedrich dem Großen und bei Blücher.

Wie die Dinge aber einmal lagen, war es für die Mehrzahl eine aus¬
gemachte Sache, daß letzten Sommer einmal wieder recht deutlich die "thönernen
Füße des Kolosses" uuter seinem Panzer sichtbar geworden waren. Die Er¬
eignisse haben seitdem auch dieses Urtheil über einen Theil der russischen Ver¬
waltung als ein leichtsinniges, vielfach als ein gehässiges erscheinen lassen.
Als ein gehässiges erscheint es überall bei denjenigen Zeitungen, welche einen
Widerruf der früher gemachten irrigen Angaben unterlassen oder nur beiläufig
in möglichst verdeckter, harmloser Form bringen. Wir wollen hiervon nur ein
einziges Beispiel anführen und keine Namen dabei nennen, denn es ist uns,


Als der „Golos" im Sommer vorigen Jahres unter dem Eindrucke der
russischen Niederlagen die Worte aussprach: „Weder Frankreich noch England
haben Rußland in der Krim besiegt, sondern seine eigene Verwaltung", wurde
er deswegen mit Unterdrückung bestraft. Die Zeitung wurde auf einige
Monate suspendirt. Wer daraus schließen wollte, daß der Ausspruch eine
große Wahrheit enthalten, würde allerdings irren, aber er legte den Finger
auf eine offene Wunde, und das schmerzt den Betroffenen und beweist minde¬
stens das Vorhandensein einer wunden Stelle.

Weder 1855 noch 1877 hat die schlechte Verwaltung die Niederlagen
Rußland's allein verschuldet, aber unstreitig war sie vorhanden. Will man
jedoch gerecht sein, so muß man zugeben, daß kein Land der Welt, vielleicht
Japan ausgenommen, in den letzten 20 Jahren so tiefgreifende Veränderungen
durchgemacht hat, wie Rußland. Zwischen der Intendantur von 1855 und
der von 1877 ist denn doch ein himmelweiter Unterschied, und die Armeever¬
pflegung ist doch nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil der riesenhaften Ver¬
waltungsmaschine des Achtzig-Millionenreiches, Während 1855 die Versetzung
zweier russischer Regimenter in der Weise ausgeführt wurde, daß die Obersten
derselben die Achselklappen und Nummernknöpfe abtrennen ließen und mit ein¬
ander vertauschten, indem sie die Kosten des Garnisonwechsels einfach mit den
betreffenden Finanzbeamten theilten, waren die 1877 vorgekommenen Unter-
schleife von der Art, wie sie bei jedem Kriege, in jeder Armee vorkommen
können, welche ihre Verpflegung einseitig dem Lieferantensystem anheimstellt.
Man denke doch an die ähnlichen Vorfälle in der französischen, österreichischen,
amerikanischen, englischen Armee. Wenn die deutsche Heeresverwaltung in
neuerer Zeit davon verschont geblieben ist, ähnliche trübe Erfahrungen in
großem Maßstabe zu machen, so dankt sie dies weniger der außerordentlichen
Biederkeit der deutschen Lieferanten, als einem besser eingerichteten System.
Wie es früher bei uns damit bestellt war, darüber kann man sich leicht be¬
lehren bei zwei Militärs, denen eine gewisse Sachkenntniß hierin gewiß nicht
abzusprechen ist: bei Friedrich dem Großen und bei Blücher.

Wie die Dinge aber einmal lagen, war es für die Mehrzahl eine aus¬
gemachte Sache, daß letzten Sommer einmal wieder recht deutlich die „thönernen
Füße des Kolosses" uuter seinem Panzer sichtbar geworden waren. Die Er¬
eignisse haben seitdem auch dieses Urtheil über einen Theil der russischen Ver¬
waltung als ein leichtsinniges, vielfach als ein gehässiges erscheinen lassen.
Als ein gehässiges erscheint es überall bei denjenigen Zeitungen, welche einen
Widerruf der früher gemachten irrigen Angaben unterlassen oder nur beiläufig
in möglichst verdeckter, harmloser Form bringen. Wir wollen hiervon nur ein
einziges Beispiel anführen und keine Namen dabei nennen, denn es ist uns,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/264>, abgerufen am 25.08.2024.