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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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ihre Köpfe eng und beschränkt, und man hat über die französische Kammer
von 1848 bemerkt: ,Wenn eine derartige Versammlung eine Zeit lang bei¬
sammen ist, so verliert sie jeden Blick und jedes Urtheil in Betreff der Außen¬
welt/ Diesen Weg wandelt man jetzt in unserem Reichstage. Idealisten und
alte Junggesellen, die des lebendigen Verkehrs mit dem Volke entbehren, haben
in einzelnen Parteien einen geradezu schädlichen Einfluß erlangt; die Entschei¬
dung über die für die Volkswohlfahrt wichtigsten Gegenstände ist dadurch in
die Hände prosessionsmäßiger Politikmacher, Intriganten und Koteriehelden
gelegt...Die meisten Reden in unserem Reichstage hören sich nachgerade an
wie eine zweite vermehrte Auflage der ^Frankfurter Nationalversammlung: viel
Worte, wenig Sinn, fast immer dieselben rhetorischen Klopffechter, die über alle
Gegenstände nach fertigen Theorieen und Schablonen reden und das letzte Wort
behalten."

Der Verfasser konnte seinen Unmuth milder und höflicher ausdrücken. Er
hat in seinem Tadel bisweilen auch inhaltlich ein wenig zuviel gethan. Er
mußte ihn deutlicher, als geschehen, auf gewisse Parteien, auf gewisse Flügel
von solchen und auf gewisse Persönlichkeiten beschränken, die freilich unbequem
genug find. Aber die Beobachtung und Empfindung, die seinen Bemerkungen
zu Grunde liegt, ist im Ganzen nicht wohl als unrichtig zu bezeichnen, und
daß Viele im Volke seine Ansicht theilten und sehr wahrscheinlich noch theilen,
haben die letzten Wahlen anch hinsichtlich der nationalliberalen Partei gezeigt.

Es ist richtig, daß sich in den Debatten des Reichstags wie in denen des
preußischen Abgeordnetenhauses häufig ein Unfehlbarkeitsbewußtsein ausspricht,
dessen Berechtigung außerhalb dieser Körperschaften in weiten Kreisen nicht
anerkannt wird, und das auf Manche fogar komisch wirkt. Häufiger noch
tritt in der That bei den Versuchen der Regierung, sich mit diesen Parlamenten
über gewisse Nothwendigkeiten zu verständigen, ein Wesen hervor, das den Be¬
treffenden als Ueberzeugungstreue erscheinen mag, von Anderen aber als Recht¬
haberei empfunden wird. Kleinliche Streitigkeiten nehmen mehr Zeit als billig
in Anspruch. Oft wird bei Verhandluttgen mit dem Kanzler außer Acht gelassen,
daß es außer dem letzteren und der ihm näher stehenden von den liberalen Parteien
noch eine andere Macht gibt, welche Ja- zu sagen hat, wenn das in Aussicht
genommene Abkommen perfekt werden soll, und welche gewisse Forderungen
niemals bewilligen würde. Daß manche von den Reichstagsmitgliedern, deren
Redefertigkeit ihnen eine Führerrolle gewonnen hat, in Theorieen befangen und
dem Leben abgewandt sind, sodaß sie in der Regel die thatsächliche Lage als
sich günstiger, als sie in Wahrheit ist, ansehen und die wahren Bedürfnisse des
Volkes nicht erkennen, ist ebensowenig zu leugnen, als daß bei ihnen das Ge¬
fühl ihrer "Würde" (ein sehr beliebtes und viel häufiger als nöthig zu hörendes


ihre Köpfe eng und beschränkt, und man hat über die französische Kammer
von 1848 bemerkt: ,Wenn eine derartige Versammlung eine Zeit lang bei¬
sammen ist, so verliert sie jeden Blick und jedes Urtheil in Betreff der Außen¬
welt/ Diesen Weg wandelt man jetzt in unserem Reichstage. Idealisten und
alte Junggesellen, die des lebendigen Verkehrs mit dem Volke entbehren, haben
in einzelnen Parteien einen geradezu schädlichen Einfluß erlangt; die Entschei¬
dung über die für die Volkswohlfahrt wichtigsten Gegenstände ist dadurch in
die Hände prosessionsmäßiger Politikmacher, Intriganten und Koteriehelden
gelegt...Die meisten Reden in unserem Reichstage hören sich nachgerade an
wie eine zweite vermehrte Auflage der ^Frankfurter Nationalversammlung: viel
Worte, wenig Sinn, fast immer dieselben rhetorischen Klopffechter, die über alle
Gegenstände nach fertigen Theorieen und Schablonen reden und das letzte Wort
behalten."

Der Verfasser konnte seinen Unmuth milder und höflicher ausdrücken. Er
hat in seinem Tadel bisweilen auch inhaltlich ein wenig zuviel gethan. Er
mußte ihn deutlicher, als geschehen, auf gewisse Parteien, auf gewisse Flügel
von solchen und auf gewisse Persönlichkeiten beschränken, die freilich unbequem
genug find. Aber die Beobachtung und Empfindung, die seinen Bemerkungen
zu Grunde liegt, ist im Ganzen nicht wohl als unrichtig zu bezeichnen, und
daß Viele im Volke seine Ansicht theilten und sehr wahrscheinlich noch theilen,
haben die letzten Wahlen anch hinsichtlich der nationalliberalen Partei gezeigt.

Es ist richtig, daß sich in den Debatten des Reichstags wie in denen des
preußischen Abgeordnetenhauses häufig ein Unfehlbarkeitsbewußtsein ausspricht,
dessen Berechtigung außerhalb dieser Körperschaften in weiten Kreisen nicht
anerkannt wird, und das auf Manche fogar komisch wirkt. Häufiger noch
tritt in der That bei den Versuchen der Regierung, sich mit diesen Parlamenten
über gewisse Nothwendigkeiten zu verständigen, ein Wesen hervor, das den Be¬
treffenden als Ueberzeugungstreue erscheinen mag, von Anderen aber als Recht¬
haberei empfunden wird. Kleinliche Streitigkeiten nehmen mehr Zeit als billig
in Anspruch. Oft wird bei Verhandluttgen mit dem Kanzler außer Acht gelassen,
daß es außer dem letzteren und der ihm näher stehenden von den liberalen Parteien
noch eine andere Macht gibt, welche Ja- zu sagen hat, wenn das in Aussicht
genommene Abkommen perfekt werden soll, und welche gewisse Forderungen
niemals bewilligen würde. Daß manche von den Reichstagsmitgliedern, deren
Redefertigkeit ihnen eine Führerrolle gewonnen hat, in Theorieen befangen und
dem Leben abgewandt sind, sodaß sie in der Regel die thatsächliche Lage als
sich günstiger, als sie in Wahrheit ist, ansehen und die wahren Bedürfnisse des
Volkes nicht erkennen, ist ebensowenig zu leugnen, als daß bei ihnen das Ge¬
fühl ihrer „Würde" (ein sehr beliebtes und viel häufiger als nöthig zu hörendes


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[0214] ihre Köpfe eng und beschränkt, und man hat über die französische Kammer von 1848 bemerkt: ,Wenn eine derartige Versammlung eine Zeit lang bei¬ sammen ist, so verliert sie jeden Blick und jedes Urtheil in Betreff der Außen¬ welt/ Diesen Weg wandelt man jetzt in unserem Reichstage. Idealisten und alte Junggesellen, die des lebendigen Verkehrs mit dem Volke entbehren, haben in einzelnen Parteien einen geradezu schädlichen Einfluß erlangt; die Entschei¬ dung über die für die Volkswohlfahrt wichtigsten Gegenstände ist dadurch in die Hände prosessionsmäßiger Politikmacher, Intriganten und Koteriehelden gelegt...Die meisten Reden in unserem Reichstage hören sich nachgerade an wie eine zweite vermehrte Auflage der ^Frankfurter Nationalversammlung: viel Worte, wenig Sinn, fast immer dieselben rhetorischen Klopffechter, die über alle Gegenstände nach fertigen Theorieen und Schablonen reden und das letzte Wort behalten." Der Verfasser konnte seinen Unmuth milder und höflicher ausdrücken. Er hat in seinem Tadel bisweilen auch inhaltlich ein wenig zuviel gethan. Er mußte ihn deutlicher, als geschehen, auf gewisse Parteien, auf gewisse Flügel von solchen und auf gewisse Persönlichkeiten beschränken, die freilich unbequem genug find. Aber die Beobachtung und Empfindung, die seinen Bemerkungen zu Grunde liegt, ist im Ganzen nicht wohl als unrichtig zu bezeichnen, und daß Viele im Volke seine Ansicht theilten und sehr wahrscheinlich noch theilen, haben die letzten Wahlen anch hinsichtlich der nationalliberalen Partei gezeigt. Es ist richtig, daß sich in den Debatten des Reichstags wie in denen des preußischen Abgeordnetenhauses häufig ein Unfehlbarkeitsbewußtsein ausspricht, dessen Berechtigung außerhalb dieser Körperschaften in weiten Kreisen nicht anerkannt wird, und das auf Manche fogar komisch wirkt. Häufiger noch tritt in der That bei den Versuchen der Regierung, sich mit diesen Parlamenten über gewisse Nothwendigkeiten zu verständigen, ein Wesen hervor, das den Be¬ treffenden als Ueberzeugungstreue erscheinen mag, von Anderen aber als Recht¬ haberei empfunden wird. Kleinliche Streitigkeiten nehmen mehr Zeit als billig in Anspruch. Oft wird bei Verhandluttgen mit dem Kanzler außer Acht gelassen, daß es außer dem letzteren und der ihm näher stehenden von den liberalen Parteien noch eine andere Macht gibt, welche Ja- zu sagen hat, wenn das in Aussicht genommene Abkommen perfekt werden soll, und welche gewisse Forderungen niemals bewilligen würde. Daß manche von den Reichstagsmitgliedern, deren Redefertigkeit ihnen eine Führerrolle gewonnen hat, in Theorieen befangen und dem Leben abgewandt sind, sodaß sie in der Regel die thatsächliche Lage als sich günstiger, als sie in Wahrheit ist, ansehen und die wahren Bedürfnisse des Volkes nicht erkennen, ist ebensowenig zu leugnen, als daß bei ihnen das Ge¬ fühl ihrer „Würde" (ein sehr beliebtes und viel häufiger als nöthig zu hörendes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/214>, abgerufen am 01.07.2024.