Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.dem unablässigen sozialen Gährungsprozeß, der die Wellen des Menschenstroms An Streiks und Lockouts, z. Th. weitverzweigten und halsstarrigen, hat dem unablässigen sozialen Gährungsprozeß, der die Wellen des Menschenstroms An Streiks und Lockouts, z. Th. weitverzweigten und halsstarrigen, hat <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0200" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141611"/> <p xml:id="ID_598" prev="#ID_597"> dem unablässigen sozialen Gährungsprozeß, der die Wellen des Menschenstroms<lb/> bald hier bald dorthin wirft, so daß man auf Kirchhöfen fast nie drei Gene¬<lb/> rationen vertreten findet. Der zweite Grund, die Bedürfnißfrage, die vom<lb/> Verfasser ausführlich erörtert und verneint wird, ist aber der hauptsächliche. Kon¬<lb/> sumvereine sind in Amerika nicht so am Platze, weil der Trieb zum Erwerben<lb/> viel reger und zugleich viel fruchtbarer ist, als zum Ersparen und Zusammen¬<lb/> halten. Mit einer Schnelligkeit, die in der alten Welt unglaublich erscheint,<lb/> werden in der neuen Vermögen erworben und verloren: da lohnt es allerdings<lb/> nicht, um kleine Ersparnisse sich viel zu bemühen. Produktivgenossenschaften<lb/> andererseits gedeihen nicht, weil diese sich auf das Handwerk stützen, und<lb/> dasselbe in Amerika noch weit mehr als bei uns von der Großindustrie über¬<lb/> holt ist. Endlich zeigt sich die Gesetzgebung der meisten Staaten dem Ge¬<lb/> nossenschaftswesen ebensowenig günstig, wie die öffentliche Meinung. „Pionniere<lb/> von Rochdale" sind dort nicht aufgetreten, auch kein Huber oder Schulze-<lb/> Delitzsch. Eine den Vereinigten Staaten eigenthümliche Veranstaltung sind die<lb/> Bauvereine, eine Gattung Spar- und Leihgenossenschaft. Wenn aber auch die<lb/> kooperative Arbeit, die in Europa mehr und mehr Eingang findet, in der<lb/> Union sich nicht einbürgern will, so liegen doch gerade dort eine Menge Bei¬<lb/> spiele vor von rein kommunistischen Verbindungen, also dem fortgeschrittensten<lb/> Genossenschaftswesen. Es werden deren zehn aufgezählt. Ueber Gewerkvereine<lb/> ist amtlich nichts festgestellt, ihre Zahl wird jedoch auf 1500 geschätzt, und<lb/> wohl jeder namhafte Industriezweig mit entsprechender Betheiligung ist darin<lb/> vertreten. Ueber die Molly Maguires, einen merkwürdigen geheimen Ver¬<lb/> brecherorden, brachte im April 1877 die Böhmert-Stubnitz'sche „Sozial-Korre-<lb/> spondenz" in Dresden eingehende Schilderungen, die auch vielfach in deutsche<lb/> Blätter übergingen, so daß wir hier davon absehen dürfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_599" next="#ID_600"> An Streiks und Lockouts, z. Th. weitverzweigten und halsstarrigen, hat<lb/> es in den Vereinigten Staaten nicht gefehlt. Daß in manchen Fällen die<lb/> einen wie die anderen als einziges Lehrmittel für harte Köpfe und verstockte<lb/> Gemüther dienen können, foll nicht geleugnet werden. Im Ganzen bestätigt<lb/> sich jedoch auch jenseits des Ozeans, daß sie eine Schule der allerkostspieligsten<lb/> und peinvollsten Art für beide Theile sind. Auf beiden Seiten bricht sich denn<lb/> auch die Ueberzeugung Bahn, daß wirkliche Unbilligkeiten nicht auf die Dauer<lb/> aufrecht zu erhalten sind, sondern, wenn nur die Reaktion dagegen verständig<lb/> und gemäßigt auftritt, auf friedlichem Wege abgestellt werden können. Ist das<lb/> Unrecht auf Seite des Arbeitgebers, so hat freilich der Arbeiter oft eiuen<lb/> schweren Stand, wenn er isolirt handelt; gehört er jedoch einem Gewerkverein<lb/> an, in welchem der richtige Geist waltet, so wird ihn dieser in der Regel be¬<lb/> fähigen, seine Waare, die Arbeitskraft, nicht zu Nothpreisen verschleudern zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0200]
dem unablässigen sozialen Gährungsprozeß, der die Wellen des Menschenstroms
bald hier bald dorthin wirft, so daß man auf Kirchhöfen fast nie drei Gene¬
rationen vertreten findet. Der zweite Grund, die Bedürfnißfrage, die vom
Verfasser ausführlich erörtert und verneint wird, ist aber der hauptsächliche. Kon¬
sumvereine sind in Amerika nicht so am Platze, weil der Trieb zum Erwerben
viel reger und zugleich viel fruchtbarer ist, als zum Ersparen und Zusammen¬
halten. Mit einer Schnelligkeit, die in der alten Welt unglaublich erscheint,
werden in der neuen Vermögen erworben und verloren: da lohnt es allerdings
nicht, um kleine Ersparnisse sich viel zu bemühen. Produktivgenossenschaften
andererseits gedeihen nicht, weil diese sich auf das Handwerk stützen, und
dasselbe in Amerika noch weit mehr als bei uns von der Großindustrie über¬
holt ist. Endlich zeigt sich die Gesetzgebung der meisten Staaten dem Ge¬
nossenschaftswesen ebensowenig günstig, wie die öffentliche Meinung. „Pionniere
von Rochdale" sind dort nicht aufgetreten, auch kein Huber oder Schulze-
Delitzsch. Eine den Vereinigten Staaten eigenthümliche Veranstaltung sind die
Bauvereine, eine Gattung Spar- und Leihgenossenschaft. Wenn aber auch die
kooperative Arbeit, die in Europa mehr und mehr Eingang findet, in der
Union sich nicht einbürgern will, so liegen doch gerade dort eine Menge Bei¬
spiele vor von rein kommunistischen Verbindungen, also dem fortgeschrittensten
Genossenschaftswesen. Es werden deren zehn aufgezählt. Ueber Gewerkvereine
ist amtlich nichts festgestellt, ihre Zahl wird jedoch auf 1500 geschätzt, und
wohl jeder namhafte Industriezweig mit entsprechender Betheiligung ist darin
vertreten. Ueber die Molly Maguires, einen merkwürdigen geheimen Ver¬
brecherorden, brachte im April 1877 die Böhmert-Stubnitz'sche „Sozial-Korre-
spondenz" in Dresden eingehende Schilderungen, die auch vielfach in deutsche
Blätter übergingen, so daß wir hier davon absehen dürfen.
An Streiks und Lockouts, z. Th. weitverzweigten und halsstarrigen, hat
es in den Vereinigten Staaten nicht gefehlt. Daß in manchen Fällen die
einen wie die anderen als einziges Lehrmittel für harte Köpfe und verstockte
Gemüther dienen können, foll nicht geleugnet werden. Im Ganzen bestätigt
sich jedoch auch jenseits des Ozeans, daß sie eine Schule der allerkostspieligsten
und peinvollsten Art für beide Theile sind. Auf beiden Seiten bricht sich denn
auch die Ueberzeugung Bahn, daß wirkliche Unbilligkeiten nicht auf die Dauer
aufrecht zu erhalten sind, sondern, wenn nur die Reaktion dagegen verständig
und gemäßigt auftritt, auf friedlichem Wege abgestellt werden können. Ist das
Unrecht auf Seite des Arbeitgebers, so hat freilich der Arbeiter oft eiuen
schweren Stand, wenn er isolirt handelt; gehört er jedoch einem Gewerkverein
an, in welchem der richtige Geist waltet, so wird ihn dieser in der Regel be¬
fähigen, seine Waare, die Arbeitskraft, nicht zu Nothpreisen verschleudern zu
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |