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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Christen aber erhielten den köstlichen Ring, nämlich den christlichen Glauben,
mit dem man Wunder wirken kann.

In diesen beiden Fassungen fehlt die Vermittelung des weisen Meisters,
aber es gilt von ihnen dasselbe, was wir von der vorhergehenden Fassung be¬
merkt haben: Das stark christliche Kolorit kennzeichnet sie als Nachbildungen
der C. N.

Die letzte christliche Darstellung der Ringfabel findet sich, wie schon er¬
wähnt, in einem aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden
und von A. Tobler 1871 edirten französischen Gedicht mit der Aufschrift: I^i8
61s aom vrai Diese Quelle stellt nach der Angabe des Herausgebers
unter dem Ringe das heilige Land dar. Die beiden älteren Brüder, die
Juden und Sarazenen, haben dem jüngeren Bruder, den Christen, das ihm vom
Vater verliehene Erbtheil entrissen, sie haben ihn daraus vertrieben, und er
kann daselbst nicht fürder seinen Wohnsitz nehmen. Der Ort, wo Gott von
einer Jungfrau geboren ward, ist bereits geräumt und erleidet schmähliche Be¬
handlung. Acre, der Schlüssel zum heiligen Lande, ist des Ringes wahrer
Stein, sein Reis ist aber keineswegs noch ganz, vielmehr ist er an mehreren
Stellen zerstückt, und man sieht keinen von denen, die Gott auserwählt hat,
des Ringes zu warten und ihn wieder zu erlösen, herbeieilen. Gott wird
nicht mehr daselbst gepriesen, ihm wird nicht mehr gedient, der Ort ist viel¬
mehr geknechtet. Die geistlichen Würdenträger tragen durch sträfliche Theil-
nahmlosigkeit mit dazu bei, daß der Ring zu Grunde geht.

Diese Fassung, wenn sie dem Märchen auch eine ganz neue Wendung
gibt, steht an Werth noch hinter den Darstellungen der Gesta zurück und hat
diese jedenfalls wieder zu ihrer Voraussetzung.

Fassen wir das Resultat zum Schlüsse kurz zusammen, so lautet es dahin,
daß jedenfalls das Buch Schedels Jehuda die allen Versionen zu Grunde lie¬
gende Quelle enthält. Wenn auch das Werk das jüngste von allen ist, in
welchen die Parabel vorkommt, ja noch hundert Jahre später als die Ab¬
fassung des Decamerone fällt, so erweist sich doch nach gewichtigen inneren und
äußeren Gründen die darin mitgetheilte Parabel als die ursprünglichste Ueber¬
lieferung. Sie ist die einfachste, klarste, schärfste und schönste; alle anderen
sind nach der einen oder anderen Seite tendenziös und matt und spiegeln dent-
lich die Anschauungen der vorgeschrittenen Zeit wieder.


A. Wünsche.


Christen aber erhielten den köstlichen Ring, nämlich den christlichen Glauben,
mit dem man Wunder wirken kann.

In diesen beiden Fassungen fehlt die Vermittelung des weisen Meisters,
aber es gilt von ihnen dasselbe, was wir von der vorhergehenden Fassung be¬
merkt haben: Das stark christliche Kolorit kennzeichnet sie als Nachbildungen
der C. N.

Die letzte christliche Darstellung der Ringfabel findet sich, wie schon er¬
wähnt, in einem aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden
und von A. Tobler 1871 edirten französischen Gedicht mit der Aufschrift: I^i8
61s aom vrai Diese Quelle stellt nach der Angabe des Herausgebers
unter dem Ringe das heilige Land dar. Die beiden älteren Brüder, die
Juden und Sarazenen, haben dem jüngeren Bruder, den Christen, das ihm vom
Vater verliehene Erbtheil entrissen, sie haben ihn daraus vertrieben, und er
kann daselbst nicht fürder seinen Wohnsitz nehmen. Der Ort, wo Gott von
einer Jungfrau geboren ward, ist bereits geräumt und erleidet schmähliche Be¬
handlung. Acre, der Schlüssel zum heiligen Lande, ist des Ringes wahrer
Stein, sein Reis ist aber keineswegs noch ganz, vielmehr ist er an mehreren
Stellen zerstückt, und man sieht keinen von denen, die Gott auserwählt hat,
des Ringes zu warten und ihn wieder zu erlösen, herbeieilen. Gott wird
nicht mehr daselbst gepriesen, ihm wird nicht mehr gedient, der Ort ist viel¬
mehr geknechtet. Die geistlichen Würdenträger tragen durch sträfliche Theil-
nahmlosigkeit mit dazu bei, daß der Ring zu Grunde geht.

Diese Fassung, wenn sie dem Märchen auch eine ganz neue Wendung
gibt, steht an Werth noch hinter den Darstellungen der Gesta zurück und hat
diese jedenfalls wieder zu ihrer Voraussetzung.

Fassen wir das Resultat zum Schlüsse kurz zusammen, so lautet es dahin,
daß jedenfalls das Buch Schedels Jehuda die allen Versionen zu Grunde lie¬
gende Quelle enthält. Wenn auch das Werk das jüngste von allen ist, in
welchen die Parabel vorkommt, ja noch hundert Jahre später als die Ab¬
fassung des Decamerone fällt, so erweist sich doch nach gewichtigen inneren und
äußeren Gründen die darin mitgetheilte Parabel als die ursprünglichste Ueber¬
lieferung. Sie ist die einfachste, klarste, schärfste und schönste; alle anderen
sind nach der einen oder anderen Seite tendenziös und matt und spiegeln dent-
lich die Anschauungen der vorgeschrittenen Zeit wieder.


A. Wünsche.


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[0149] Christen aber erhielten den köstlichen Ring, nämlich den christlichen Glauben, mit dem man Wunder wirken kann. In diesen beiden Fassungen fehlt die Vermittelung des weisen Meisters, aber es gilt von ihnen dasselbe, was wir von der vorhergehenden Fassung be¬ merkt haben: Das stark christliche Kolorit kennzeichnet sie als Nachbildungen der C. N. Die letzte christliche Darstellung der Ringfabel findet sich, wie schon er¬ wähnt, in einem aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammenden und von A. Tobler 1871 edirten französischen Gedicht mit der Aufschrift: I^i8 61s aom vrai Diese Quelle stellt nach der Angabe des Herausgebers unter dem Ringe das heilige Land dar. Die beiden älteren Brüder, die Juden und Sarazenen, haben dem jüngeren Bruder, den Christen, das ihm vom Vater verliehene Erbtheil entrissen, sie haben ihn daraus vertrieben, und er kann daselbst nicht fürder seinen Wohnsitz nehmen. Der Ort, wo Gott von einer Jungfrau geboren ward, ist bereits geräumt und erleidet schmähliche Be¬ handlung. Acre, der Schlüssel zum heiligen Lande, ist des Ringes wahrer Stein, sein Reis ist aber keineswegs noch ganz, vielmehr ist er an mehreren Stellen zerstückt, und man sieht keinen von denen, die Gott auserwählt hat, des Ringes zu warten und ihn wieder zu erlösen, herbeieilen. Gott wird nicht mehr daselbst gepriesen, ihm wird nicht mehr gedient, der Ort ist viel¬ mehr geknechtet. Die geistlichen Würdenträger tragen durch sträfliche Theil- nahmlosigkeit mit dazu bei, daß der Ring zu Grunde geht. Diese Fassung, wenn sie dem Märchen auch eine ganz neue Wendung gibt, steht an Werth noch hinter den Darstellungen der Gesta zurück und hat diese jedenfalls wieder zu ihrer Voraussetzung. Fassen wir das Resultat zum Schlüsse kurz zusammen, so lautet es dahin, daß jedenfalls das Buch Schedels Jehuda die allen Versionen zu Grunde lie¬ gende Quelle enthält. Wenn auch das Werk das jüngste von allen ist, in welchen die Parabel vorkommt, ja noch hundert Jahre später als die Ab¬ fassung des Decamerone fällt, so erweist sich doch nach gewichtigen inneren und äußeren Gründen die darin mitgetheilte Parabel als die ursprünglichste Ueber¬ lieferung. Sie ist die einfachste, klarste, schärfste und schönste; alle anderen sind nach der einen oder anderen Seite tendenziös und matt und spiegeln dent- lich die Anschauungen der vorgeschrittenen Zeit wieder. A. Wünsche.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/149>, abgerufen am 23.07.2024.