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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Abfassungszeit des ersten Originals und dieser mannichfaltigen Entwickelung ein
längerer Zeitraum liegt als einige Jahre oder einige Jahrzehnte. Nach der
Ausgabe der Gest" von Adelbert von Keller ist der Inhalt der Erzählung
folgender: Ein Vater übergibt dem jüngsten seiner drei Söhne einen kost¬
baren Ring, die beiden älteren dagegen empfangen Ringe, welche anstatt des
edlen Steines nur gefärbtes Glas enthalten, im übrigen aber jenem täuschend
ähnlich sind. Kaum ist der Vater todt, so fangen die Söhne über die Echtheit
der Ringe an zu streiten. Sie wenden sich endlich an einen weisen Meister,
welcher, um hinter das Geheimniß zu kommen, die Kräfte der Ringe prüft.
"Wir wollen sehen," sagt er: "welcher Ring Siechthum vertreibt, der ist mit
dem guten Steine." Allein nur der Ring des Jüngsten besteht die Probe.
Die Nutzanwendung (vwrÄliZMo) am Schlüsse versteht dann unter den drei
Söhnen die drei Völker: die Juden, Sarazenen und Christen. Alle drei sind
Gottes Söhne durch die Schöpfung. Allein nur die Christen sind im Besitze
des wunderkrüftigen Ringes, an den Ringen der Juden und Sarazenen haften
solche Kräfte und Zeichen nicht.

Diese Fassung vindizirt zwar nicht einem Juden die Autorschaft, allein
der Inhalt in seiner stark christlichen Färbung ist der Art, daß es sich auch
gar nicht um ein selbständiges und unabhängiges Märchen handelt, sondern
vielmehr um eine Umarbeitung der C. N. Nach Liebrecht in Dunlop's "Ge¬
schichte der Prosadichtungen" (S. 221) soll die Erzählung des Schedels Jehuda
in die Gesta gekommen und aus diesen wieder in die C. N. übergegangen sein.
Doch schon der erste Blick ergibt, daß das nicht möglich ist, daß vielmehr die
Fassung der Gesta die C. N. zu ihrer Grundlage hat, und diese wieder auf
die jüdische Quelle zurückweist. Gräße's und Oesterley's Ausgaben der Gesta
geben die Parabel übrigens mit mehreren Abänderungen. Nach ihnen hat ein
Ritter drei Söhne, von denen er den jüngsten bevorzugt. Vor seinem Tode
gibt er dem Erstgeborenen die Erbschaft, dem zweiten einen Schatz und dem
dritten einen kostbaren Ring, welcher letztere aber an Werth höher steht als
das Erbtheil der beiden anderen. Außerdem erhalten auch die älteren Söhne
Ringe, die aber minder werthvoll sind (non xrstiosos). Nach dem Tode
des Vaters der Streit der Söhne. Um dahinterzukommen, wer im Besitze des
echten Ringes sei, beschließen sie eine Probe, denn der echte Ring wirkt Wunder.
Es werden verschiedene Kranke herbeigebracht, doch die Ringe der beiden älteren
Brüder bewähren ihre Kraft nicht, nur der Ring des jüngsten Bruders heilt
die Kranken. In der Nutzanwendung heißt es dann: Der Ritter ist unser Herr
Jesus Christus, welcher drei Söhne hat, Juden, Sarazenen und Christen. Den
Juden gab er das heilige Land, den Sarazenen Reichthum und Macht, die


Abfassungszeit des ersten Originals und dieser mannichfaltigen Entwickelung ein
längerer Zeitraum liegt als einige Jahre oder einige Jahrzehnte. Nach der
Ausgabe der Gest« von Adelbert von Keller ist der Inhalt der Erzählung
folgender: Ein Vater übergibt dem jüngsten seiner drei Söhne einen kost¬
baren Ring, die beiden älteren dagegen empfangen Ringe, welche anstatt des
edlen Steines nur gefärbtes Glas enthalten, im übrigen aber jenem täuschend
ähnlich sind. Kaum ist der Vater todt, so fangen die Söhne über die Echtheit
der Ringe an zu streiten. Sie wenden sich endlich an einen weisen Meister,
welcher, um hinter das Geheimniß zu kommen, die Kräfte der Ringe prüft.
„Wir wollen sehen," sagt er: „welcher Ring Siechthum vertreibt, der ist mit
dem guten Steine." Allein nur der Ring des Jüngsten besteht die Probe.
Die Nutzanwendung (vwrÄliZMo) am Schlüsse versteht dann unter den drei
Söhnen die drei Völker: die Juden, Sarazenen und Christen. Alle drei sind
Gottes Söhne durch die Schöpfung. Allein nur die Christen sind im Besitze
des wunderkrüftigen Ringes, an den Ringen der Juden und Sarazenen haften
solche Kräfte und Zeichen nicht.

Diese Fassung vindizirt zwar nicht einem Juden die Autorschaft, allein
der Inhalt in seiner stark christlichen Färbung ist der Art, daß es sich auch
gar nicht um ein selbständiges und unabhängiges Märchen handelt, sondern
vielmehr um eine Umarbeitung der C. N. Nach Liebrecht in Dunlop's „Ge¬
schichte der Prosadichtungen" (S. 221) soll die Erzählung des Schedels Jehuda
in die Gesta gekommen und aus diesen wieder in die C. N. übergegangen sein.
Doch schon der erste Blick ergibt, daß das nicht möglich ist, daß vielmehr die
Fassung der Gesta die C. N. zu ihrer Grundlage hat, und diese wieder auf
die jüdische Quelle zurückweist. Gräße's und Oesterley's Ausgaben der Gesta
geben die Parabel übrigens mit mehreren Abänderungen. Nach ihnen hat ein
Ritter drei Söhne, von denen er den jüngsten bevorzugt. Vor seinem Tode
gibt er dem Erstgeborenen die Erbschaft, dem zweiten einen Schatz und dem
dritten einen kostbaren Ring, welcher letztere aber an Werth höher steht als
das Erbtheil der beiden anderen. Außerdem erhalten auch die älteren Söhne
Ringe, die aber minder werthvoll sind (non xrstiosos). Nach dem Tode
des Vaters der Streit der Söhne. Um dahinterzukommen, wer im Besitze des
echten Ringes sei, beschließen sie eine Probe, denn der echte Ring wirkt Wunder.
Es werden verschiedene Kranke herbeigebracht, doch die Ringe der beiden älteren
Brüder bewähren ihre Kraft nicht, nur der Ring des jüngsten Bruders heilt
die Kranken. In der Nutzanwendung heißt es dann: Der Ritter ist unser Herr
Jesus Christus, welcher drei Söhne hat, Juden, Sarazenen und Christen. Den
Juden gab er das heilige Land, den Sarazenen Reichthum und Macht, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/148>, abgerufen am 23.07.2024.