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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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reden gutgeheißen. Ein Gesetz vom 23. Januar 1874 zerstörte, indem es die
Ernennung der Maires in die Hände der Regierung legte, alle Selbständigkeit
der Gemeindeverwaltung. Ein anderes unterwarf die Armee der Beaufsichti¬
gung der Geistlichkeit. Die Beamtenstellen wurden mehr und mehr mit Monar¬
chisten besetzt, und zwar berücksichtigte man dabei vorzüglich die Fraktion der
Bonapartisten, die, je mehr die Erinnerung an den Krieg in der Bevölkerung
verblaßt und je lebhafter die Sehnsucht nach Rückkehr der materiell so gün¬
stigen früheren Zeiten des Kaiserreichs geworden war, weiter Boden gewonnen
hatten und bei den Nachwahlen des letztgenannten Jahres eine ziemlich große
Anzahl von Mandaten erorberten. Am 16. Mai stürzten sie in vorübergehen¬
der Koalition mit der Linken durch Ablehnung eines von der Regierung einge¬
brachten, das allgemeine Stimmrecht stark beeinträchtigenden Wahlgesetzes das
Ministerium Broglie, doch trat an dessen Stelle unter General Cissey's Vor¬
sitz ein wesentlich gleichgesinntes Kabinet, auch blieb die Mehrheit der National¬
versammlung der Sache der Reaktion getreu. Die dramatischen Werke wurden
wieder unter Zensur gestellt, über einige vierzig republikanische Zeitungen
wurden Strafen verhängt, die von der Linken beantragte definitive Organisation
der Republik wurde von der Regierung als unzeitgemäß bekämpft, und die
Nationalversammlung lehnte sogar die vom Präsidenten geforderte Organisa¬
tion des Septennats als Befestigung der republikanischen Regierungsform ab,
bewies damit aber nur weiter, daß sie zu positiven Schöpfungen untauglich
war. Sie hätte sich in Folge dessen auflösen sollen, beschloß aber lediglich
Vertagung.

Während ihre Arbeiten ruhten, fanden im November die Gemeinderaths¬
wahlen statt und fielen fast in allen großen Städten entschieden zu Gunsten
der republikanischen Partei aus, und bei den Nachwahlen zur Nationalversamm¬
lung gewannen die Republikaner nahezu gleich viele Mandate wie die Bona¬
partisten, während die Regierung keinen ihrer Kandidaten durchbrachte. Immer
mehr mußte sich der gemäßigten Rechten, d. h. den Orleanisten, die Ueberzeugung
aufdrängen, daß ihre Partei nichts mehr zu hoffen habe. Sie sahen nur noch
die Alternative: Kaiserthum oder Republik vor sich, und da die letztere als das
geringere Uebel erschien, wenn es gelang, ihr gemäßigte Formen zu geben, so
entschloß man sich, zur Herstellung der Republik in dieser Gestalt mitzuwirken.

Die Folge dieses Entschlusses, der die Mehrheit, welche Thiers gestürzt,
zerfallen ließ, zeigte sich sogleich nach dem Wiederzusammentritt der Versamm¬
lung, der am 5. Januar 1875 stattfand. Die Botschaft des Marschall-Präsi-
denten, welche schleunige Organisirung des Septennats unter Verzicht auf eine
Entscheidung bezüglich des endgiltigen Charakters der Staatsform forderte,
wurde mit großer Stimmenmehrheit abgelehnt, worauf das Ministerium Cissey


reden gutgeheißen. Ein Gesetz vom 23. Januar 1874 zerstörte, indem es die
Ernennung der Maires in die Hände der Regierung legte, alle Selbständigkeit
der Gemeindeverwaltung. Ein anderes unterwarf die Armee der Beaufsichti¬
gung der Geistlichkeit. Die Beamtenstellen wurden mehr und mehr mit Monar¬
chisten besetzt, und zwar berücksichtigte man dabei vorzüglich die Fraktion der
Bonapartisten, die, je mehr die Erinnerung an den Krieg in der Bevölkerung
verblaßt und je lebhafter die Sehnsucht nach Rückkehr der materiell so gün¬
stigen früheren Zeiten des Kaiserreichs geworden war, weiter Boden gewonnen
hatten und bei den Nachwahlen des letztgenannten Jahres eine ziemlich große
Anzahl von Mandaten erorberten. Am 16. Mai stürzten sie in vorübergehen¬
der Koalition mit der Linken durch Ablehnung eines von der Regierung einge¬
brachten, das allgemeine Stimmrecht stark beeinträchtigenden Wahlgesetzes das
Ministerium Broglie, doch trat an dessen Stelle unter General Cissey's Vor¬
sitz ein wesentlich gleichgesinntes Kabinet, auch blieb die Mehrheit der National¬
versammlung der Sache der Reaktion getreu. Die dramatischen Werke wurden
wieder unter Zensur gestellt, über einige vierzig republikanische Zeitungen
wurden Strafen verhängt, die von der Linken beantragte definitive Organisation
der Republik wurde von der Regierung als unzeitgemäß bekämpft, und die
Nationalversammlung lehnte sogar die vom Präsidenten geforderte Organisa¬
tion des Septennats als Befestigung der republikanischen Regierungsform ab,
bewies damit aber nur weiter, daß sie zu positiven Schöpfungen untauglich
war. Sie hätte sich in Folge dessen auflösen sollen, beschloß aber lediglich
Vertagung.

Während ihre Arbeiten ruhten, fanden im November die Gemeinderaths¬
wahlen statt und fielen fast in allen großen Städten entschieden zu Gunsten
der republikanischen Partei aus, und bei den Nachwahlen zur Nationalversamm¬
lung gewannen die Republikaner nahezu gleich viele Mandate wie die Bona¬
partisten, während die Regierung keinen ihrer Kandidaten durchbrachte. Immer
mehr mußte sich der gemäßigten Rechten, d. h. den Orleanisten, die Ueberzeugung
aufdrängen, daß ihre Partei nichts mehr zu hoffen habe. Sie sahen nur noch
die Alternative: Kaiserthum oder Republik vor sich, und da die letztere als das
geringere Uebel erschien, wenn es gelang, ihr gemäßigte Formen zu geben, so
entschloß man sich, zur Herstellung der Republik in dieser Gestalt mitzuwirken.

Die Folge dieses Entschlusses, der die Mehrheit, welche Thiers gestürzt,
zerfallen ließ, zeigte sich sogleich nach dem Wiederzusammentritt der Versamm¬
lung, der am 5. Januar 1875 stattfand. Die Botschaft des Marschall-Präsi-
denten, welche schleunige Organisirung des Septennats unter Verzicht auf eine
Entscheidung bezüglich des endgiltigen Charakters der Staatsform forderte,
wurde mit großer Stimmenmehrheit abgelehnt, worauf das Ministerium Cissey


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[0132] reden gutgeheißen. Ein Gesetz vom 23. Januar 1874 zerstörte, indem es die Ernennung der Maires in die Hände der Regierung legte, alle Selbständigkeit der Gemeindeverwaltung. Ein anderes unterwarf die Armee der Beaufsichti¬ gung der Geistlichkeit. Die Beamtenstellen wurden mehr und mehr mit Monar¬ chisten besetzt, und zwar berücksichtigte man dabei vorzüglich die Fraktion der Bonapartisten, die, je mehr die Erinnerung an den Krieg in der Bevölkerung verblaßt und je lebhafter die Sehnsucht nach Rückkehr der materiell so gün¬ stigen früheren Zeiten des Kaiserreichs geworden war, weiter Boden gewonnen hatten und bei den Nachwahlen des letztgenannten Jahres eine ziemlich große Anzahl von Mandaten erorberten. Am 16. Mai stürzten sie in vorübergehen¬ der Koalition mit der Linken durch Ablehnung eines von der Regierung einge¬ brachten, das allgemeine Stimmrecht stark beeinträchtigenden Wahlgesetzes das Ministerium Broglie, doch trat an dessen Stelle unter General Cissey's Vor¬ sitz ein wesentlich gleichgesinntes Kabinet, auch blieb die Mehrheit der National¬ versammlung der Sache der Reaktion getreu. Die dramatischen Werke wurden wieder unter Zensur gestellt, über einige vierzig republikanische Zeitungen wurden Strafen verhängt, die von der Linken beantragte definitive Organisation der Republik wurde von der Regierung als unzeitgemäß bekämpft, und die Nationalversammlung lehnte sogar die vom Präsidenten geforderte Organisa¬ tion des Septennats als Befestigung der republikanischen Regierungsform ab, bewies damit aber nur weiter, daß sie zu positiven Schöpfungen untauglich war. Sie hätte sich in Folge dessen auflösen sollen, beschloß aber lediglich Vertagung. Während ihre Arbeiten ruhten, fanden im November die Gemeinderaths¬ wahlen statt und fielen fast in allen großen Städten entschieden zu Gunsten der republikanischen Partei aus, und bei den Nachwahlen zur Nationalversamm¬ lung gewannen die Republikaner nahezu gleich viele Mandate wie die Bona¬ partisten, während die Regierung keinen ihrer Kandidaten durchbrachte. Immer mehr mußte sich der gemäßigten Rechten, d. h. den Orleanisten, die Ueberzeugung aufdrängen, daß ihre Partei nichts mehr zu hoffen habe. Sie sahen nur noch die Alternative: Kaiserthum oder Republik vor sich, und da die letztere als das geringere Uebel erschien, wenn es gelang, ihr gemäßigte Formen zu geben, so entschloß man sich, zur Herstellung der Republik in dieser Gestalt mitzuwirken. Die Folge dieses Entschlusses, der die Mehrheit, welche Thiers gestürzt, zerfallen ließ, zeigte sich sogleich nach dem Wiederzusammentritt der Versamm¬ lung, der am 5. Januar 1875 stattfand. Die Botschaft des Marschall-Präsi- denten, welche schleunige Organisirung des Septennats unter Verzicht auf eine Entscheidung bezüglich des endgiltigen Charakters der Staatsform forderte, wurde mit großer Stimmenmehrheit abgelehnt, worauf das Ministerium Cissey

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/132>, abgerufen am 23.07.2024.