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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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Geheimräthe Dr. Wehrenpfennig und Letters nach Frankreich zum Studium
der dortigen technischen Schulen. Nach ihrer Rückkehr berief man eine Kom¬
mission von Sachverständigen, Großindustrielle und Lehrer an technischen An¬
stalten , in's Handelsministerium und legte dieser die beabsichtigten Verände¬
rungen in ihren Hauptzügen vor. Der Kernpunkt der Reform sollte in einer
Trennung der Gewerbeschule bestehen: in solche Anstalten, die für den höheren
technischen Beruf, für die technische Hochschule, vorbereiten, und solche, die direkt
in die Praxis eines Faches einführen. Der Plan wurde einstimmig gebilligt.

Als das Abgeordnetenhaus zusammentrat, legte die Regierung eine um¬
fassende Denkschrift über diese Materie vor, um die beabsichtigten Reformen zu
motiviren. Die Denkschrift umfaßte mehr, als die Berathung der Sachver¬
ständigen im Handelsministerium; sie faßte nicht nur den mittleren technischen
Unterricht in's Auge, sondern auch den höheren und namentlich den niederen,
der ganz besonders daniederliegt oder vielmehr gar nicht vorhanden ist. Werk¬
meisterschulen, Musterwerkstätten, Lehrlingsansialten -- das sind die Losungs¬
worte aufstrebender Industriestaaten. Ob diese Einrichtungen nun aus der
Initiative der Großindustrie, der Kommune oder des Staates hervorgehen, ist
für das Ziel gleich, wenn schon die beiden ersten die geeigneteren sein dürften.
Auf jeden Fall wird die neue Schöpfung langsam vor sich gehen. In der
gegenwärtigen Session wird vielleicht mehr das höhere und mittlere Unterrichts¬
wesen in Frage kommen.

Die Regierung will die verschiedenen technischen Akademieen Berlin's ver¬
schmelzen zu einer "Technischen Hochschule", die ähnlich organisirt werden soll,
wie die Universitäten, und für Deutschland etwa das sein würde, was sür
Frankreich die Pariser polytechnische Schule ist. Zugang zu dieser Hochschule
sollen alle Abiturienten der Gymnasien, Realschulen und Gewerbeschulen mit
neunjährigen Kursus haben. Diesem Beschlusse der Sachverständigen-Kom¬
mission gegenüber wandte sich der Berliner Architektenverein, der größtenteils
aus Baubeamten der Regierung besteht, an den Handelsminister mit der Bitte,
nur Gymnasialabiturienten den Besuch der Hochschule zu gestatten, indem sie
ausführten, daß es eine Herabwürdigung ihres Standes bedeuten würde, wenn
Techniker ohne klassische Bildung in den Staatsdienst treten könnten. Der
Minister entschied, ohne diese Petition zu berücksichtigen, im Sinne der Sach¬
verständigen-Kommission, daß auch die Gewerbeschulen mit neunjährigen Kursus
und zwei fremden Sprachen (Englisch und Französisch) Zutritt zu den techni¬
schen Staatsämtern haben sollten. Darauf wandte sich der Architektenverein
an das Abgeordnetenhaus mit der gleichen Bitte; der Verein Großindustrieller
des Rheinlandes aber versäumte nicht, das Abgeordnetenhaus um einen Ent¬
scheid im Sinne der Regierung zu ersuchen, indem er nicht ohne Ironie dem


Grenzboten I. 1879. 15

Geheimräthe Dr. Wehrenpfennig und Letters nach Frankreich zum Studium
der dortigen technischen Schulen. Nach ihrer Rückkehr berief man eine Kom¬
mission von Sachverständigen, Großindustrielle und Lehrer an technischen An¬
stalten , in's Handelsministerium und legte dieser die beabsichtigten Verände¬
rungen in ihren Hauptzügen vor. Der Kernpunkt der Reform sollte in einer
Trennung der Gewerbeschule bestehen: in solche Anstalten, die für den höheren
technischen Beruf, für die technische Hochschule, vorbereiten, und solche, die direkt
in die Praxis eines Faches einführen. Der Plan wurde einstimmig gebilligt.

Als das Abgeordnetenhaus zusammentrat, legte die Regierung eine um¬
fassende Denkschrift über diese Materie vor, um die beabsichtigten Reformen zu
motiviren. Die Denkschrift umfaßte mehr, als die Berathung der Sachver¬
ständigen im Handelsministerium; sie faßte nicht nur den mittleren technischen
Unterricht in's Auge, sondern auch den höheren und namentlich den niederen,
der ganz besonders daniederliegt oder vielmehr gar nicht vorhanden ist. Werk¬
meisterschulen, Musterwerkstätten, Lehrlingsansialten — das sind die Losungs¬
worte aufstrebender Industriestaaten. Ob diese Einrichtungen nun aus der
Initiative der Großindustrie, der Kommune oder des Staates hervorgehen, ist
für das Ziel gleich, wenn schon die beiden ersten die geeigneteren sein dürften.
Auf jeden Fall wird die neue Schöpfung langsam vor sich gehen. In der
gegenwärtigen Session wird vielleicht mehr das höhere und mittlere Unterrichts¬
wesen in Frage kommen.

Die Regierung will die verschiedenen technischen Akademieen Berlin's ver¬
schmelzen zu einer „Technischen Hochschule", die ähnlich organisirt werden soll,
wie die Universitäten, und für Deutschland etwa das sein würde, was sür
Frankreich die Pariser polytechnische Schule ist. Zugang zu dieser Hochschule
sollen alle Abiturienten der Gymnasien, Realschulen und Gewerbeschulen mit
neunjährigen Kursus haben. Diesem Beschlusse der Sachverständigen-Kom¬
mission gegenüber wandte sich der Berliner Architektenverein, der größtenteils
aus Baubeamten der Regierung besteht, an den Handelsminister mit der Bitte,
nur Gymnasialabiturienten den Besuch der Hochschule zu gestatten, indem sie
ausführten, daß es eine Herabwürdigung ihres Standes bedeuten würde, wenn
Techniker ohne klassische Bildung in den Staatsdienst treten könnten. Der
Minister entschied, ohne diese Petition zu berücksichtigen, im Sinne der Sach¬
verständigen-Kommission, daß auch die Gewerbeschulen mit neunjährigen Kursus
und zwei fremden Sprachen (Englisch und Französisch) Zutritt zu den techni¬
schen Staatsämtern haben sollten. Darauf wandte sich der Architektenverein
an das Abgeordnetenhaus mit der gleichen Bitte; der Verein Großindustrieller
des Rheinlandes aber versäumte nicht, das Abgeordnetenhaus um einen Ent¬
scheid im Sinne der Regierung zu ersuchen, indem er nicht ohne Ironie dem


Grenzboten I. 1879. 15
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[0121] Geheimräthe Dr. Wehrenpfennig und Letters nach Frankreich zum Studium der dortigen technischen Schulen. Nach ihrer Rückkehr berief man eine Kom¬ mission von Sachverständigen, Großindustrielle und Lehrer an technischen An¬ stalten , in's Handelsministerium und legte dieser die beabsichtigten Verände¬ rungen in ihren Hauptzügen vor. Der Kernpunkt der Reform sollte in einer Trennung der Gewerbeschule bestehen: in solche Anstalten, die für den höheren technischen Beruf, für die technische Hochschule, vorbereiten, und solche, die direkt in die Praxis eines Faches einführen. Der Plan wurde einstimmig gebilligt. Als das Abgeordnetenhaus zusammentrat, legte die Regierung eine um¬ fassende Denkschrift über diese Materie vor, um die beabsichtigten Reformen zu motiviren. Die Denkschrift umfaßte mehr, als die Berathung der Sachver¬ ständigen im Handelsministerium; sie faßte nicht nur den mittleren technischen Unterricht in's Auge, sondern auch den höheren und namentlich den niederen, der ganz besonders daniederliegt oder vielmehr gar nicht vorhanden ist. Werk¬ meisterschulen, Musterwerkstätten, Lehrlingsansialten — das sind die Losungs¬ worte aufstrebender Industriestaaten. Ob diese Einrichtungen nun aus der Initiative der Großindustrie, der Kommune oder des Staates hervorgehen, ist für das Ziel gleich, wenn schon die beiden ersten die geeigneteren sein dürften. Auf jeden Fall wird die neue Schöpfung langsam vor sich gehen. In der gegenwärtigen Session wird vielleicht mehr das höhere und mittlere Unterrichts¬ wesen in Frage kommen. Die Regierung will die verschiedenen technischen Akademieen Berlin's ver¬ schmelzen zu einer „Technischen Hochschule", die ähnlich organisirt werden soll, wie die Universitäten, und für Deutschland etwa das sein würde, was sür Frankreich die Pariser polytechnische Schule ist. Zugang zu dieser Hochschule sollen alle Abiturienten der Gymnasien, Realschulen und Gewerbeschulen mit neunjährigen Kursus haben. Diesem Beschlusse der Sachverständigen-Kom¬ mission gegenüber wandte sich der Berliner Architektenverein, der größtenteils aus Baubeamten der Regierung besteht, an den Handelsminister mit der Bitte, nur Gymnasialabiturienten den Besuch der Hochschule zu gestatten, indem sie ausführten, daß es eine Herabwürdigung ihres Standes bedeuten würde, wenn Techniker ohne klassische Bildung in den Staatsdienst treten könnten. Der Minister entschied, ohne diese Petition zu berücksichtigen, im Sinne der Sach¬ verständigen-Kommission, daß auch die Gewerbeschulen mit neunjährigen Kursus und zwei fremden Sprachen (Englisch und Französisch) Zutritt zu den techni¬ schen Staatsämtern haben sollten. Darauf wandte sich der Architektenverein an das Abgeordnetenhaus mit der gleichen Bitte; der Verein Großindustrieller des Rheinlandes aber versäumte nicht, das Abgeordnetenhaus um einen Ent¬ scheid im Sinne der Regierung zu ersuchen, indem er nicht ohne Ironie dem Grenzboten I. 1879. 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/121>, abgerufen am 01.07.2024.