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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Radde's, welches uns mit diesem merkwürdigen Völkersplitter bekannt macht,
sührt den Titel: "die Chewsuren und ihr Land. Ein monographischer Versuch.
Mit 13 Tafeln, vielen Holzschnitten und einer Karte." (Kassel, Theoder
Fischer 1878).

Die Chewsuren wohnen in den höchsten Thälern des Kaukasus, östlich
vom Kasbek-Berge, wo die riesigen Schneewasser dieses riesigen Alpengebirges
zwischen schwarzen Schiefergebirgen sich zum Aragwa-Strome vereinigen. Alles
in allem zählt das Volk, das in acht Genossenschaften zerfällt, nur 6000 Köpfe.
Sie sind grusinischer Abkunft, darauf weisen ihre Traditionen, vor allem aber
die Sprache hin, die ein antikes Grusinisch ist, das sich unbeeinflußt in den
Verstecken des Hochgebirges erhielt. Nun kennen wir die Stellung der Chew¬
suren in der Völkerreihe. Käme es aber darauf an, diese brünetten, schwarz¬
haarigen Leute anthropologisch zu fixiren, so würden wir schwer eine Ant¬
wort geben können. "Ich will aus tausenden der Nachbarvölker den Chew¬
suren herauserkennen, auch wenn er nicht das originelle Kostüm oder die
Rüstung trägt; aber ich kann darum doch keine Diagnose für die Chewsuren
im Allgemeinen niederschreiben," sagt Radde. Sie sind aber ein Mischvolk, von
vorwiegend grusinischer Basis, welches im Laufe der Jahrhunderte aus den
Nachbarbevölkerungen sich in den Verstecken des Hochgebirges bildete und hier
eine große Anzahl schon angebrachter sonderbarer Gebräuche konservirte, andere,
beeinflußt durch eine wilde, unbändige Natur, in sich entwickelte und, sich um die
Außenwelt absolut nicht kümmernd, den antiken Typus erhielt. Aber eines
läßt den echten Chewsuren erkennen: ein Gesicht voll schmisse, wie es der
wildeste Raufbold deutscher Hochschulen nicht schöner aufzuweisen vermag. Der
mit eisernen Spitzzähnen am Daumen getragene Sazeruli-Ring hat den Kops
und das Gesicht fast eines jeden Chewsuren einmal bearbeitet. Die Ohrfeige,
mit ihm ausgeführt, reißt, vom Ohre beginnend die Wangenfläche auf und
streift nicht selten den Nasengipfel wie eine gerecht durchgerissene Quart, und
so sind denn bei den männlichen Chewsnren wenig unverletzte Nasen zu finden.
Die Mädchen dagegen bieten die frischesten und drallsten Körperformen, die
man sich denken kann. "So etwas von strotzender Gesundheit, ohne zu große
Ueppigkeit, wird man schwerlich bei zahmeren Völkern finden."

Begleiten wir kurz dies merkwürdige Völkchen von der Wiege bis zur
Bahre. Das Chewsurenweib darf uicht im Hause oder im heimathlichen Dorfe
gebären; das schwangere Weib ist unrein und kommt in einer elenden Stroh¬
hütte im Gebirge ohne jede Hilfe, nicht selten bei 20 Grad Kälte nieder; da
liegt sie auf Stroh allein, ganz allein ohne irgend welche Hilfe. Und doch
vollzieht sich der W leicht und normal. Dann muß das Weib mit dem Kinde
noch einen vollen Monat in der elenden Hütte zubringen: die Nahrung, unge-


Radde's, welches uns mit diesem merkwürdigen Völkersplitter bekannt macht,
sührt den Titel: „die Chewsuren und ihr Land. Ein monographischer Versuch.
Mit 13 Tafeln, vielen Holzschnitten und einer Karte." (Kassel, Theoder
Fischer 1878).

Die Chewsuren wohnen in den höchsten Thälern des Kaukasus, östlich
vom Kasbek-Berge, wo die riesigen Schneewasser dieses riesigen Alpengebirges
zwischen schwarzen Schiefergebirgen sich zum Aragwa-Strome vereinigen. Alles
in allem zählt das Volk, das in acht Genossenschaften zerfällt, nur 6000 Köpfe.
Sie sind grusinischer Abkunft, darauf weisen ihre Traditionen, vor allem aber
die Sprache hin, die ein antikes Grusinisch ist, das sich unbeeinflußt in den
Verstecken des Hochgebirges erhielt. Nun kennen wir die Stellung der Chew¬
suren in der Völkerreihe. Käme es aber darauf an, diese brünetten, schwarz¬
haarigen Leute anthropologisch zu fixiren, so würden wir schwer eine Ant¬
wort geben können. „Ich will aus tausenden der Nachbarvölker den Chew¬
suren herauserkennen, auch wenn er nicht das originelle Kostüm oder die
Rüstung trägt; aber ich kann darum doch keine Diagnose für die Chewsuren
im Allgemeinen niederschreiben," sagt Radde. Sie sind aber ein Mischvolk, von
vorwiegend grusinischer Basis, welches im Laufe der Jahrhunderte aus den
Nachbarbevölkerungen sich in den Verstecken des Hochgebirges bildete und hier
eine große Anzahl schon angebrachter sonderbarer Gebräuche konservirte, andere,
beeinflußt durch eine wilde, unbändige Natur, in sich entwickelte und, sich um die
Außenwelt absolut nicht kümmernd, den antiken Typus erhielt. Aber eines
läßt den echten Chewsuren erkennen: ein Gesicht voll schmisse, wie es der
wildeste Raufbold deutscher Hochschulen nicht schöner aufzuweisen vermag. Der
mit eisernen Spitzzähnen am Daumen getragene Sazeruli-Ring hat den Kops
und das Gesicht fast eines jeden Chewsuren einmal bearbeitet. Die Ohrfeige,
mit ihm ausgeführt, reißt, vom Ohre beginnend die Wangenfläche auf und
streift nicht selten den Nasengipfel wie eine gerecht durchgerissene Quart, und
so sind denn bei den männlichen Chewsnren wenig unverletzte Nasen zu finden.
Die Mädchen dagegen bieten die frischesten und drallsten Körperformen, die
man sich denken kann. „So etwas von strotzender Gesundheit, ohne zu große
Ueppigkeit, wird man schwerlich bei zahmeren Völkern finden."

Begleiten wir kurz dies merkwürdige Völkchen von der Wiege bis zur
Bahre. Das Chewsurenweib darf uicht im Hause oder im heimathlichen Dorfe
gebären; das schwangere Weib ist unrein und kommt in einer elenden Stroh¬
hütte im Gebirge ohne jede Hilfe, nicht selten bei 20 Grad Kälte nieder; da
liegt sie auf Stroh allein, ganz allein ohne irgend welche Hilfe. Und doch
vollzieht sich der W leicht und normal. Dann muß das Weib mit dem Kinde
noch einen vollen Monat in der elenden Hütte zubringen: die Nahrung, unge-


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[0474] Radde's, welches uns mit diesem merkwürdigen Völkersplitter bekannt macht, sührt den Titel: „die Chewsuren und ihr Land. Ein monographischer Versuch. Mit 13 Tafeln, vielen Holzschnitten und einer Karte." (Kassel, Theoder Fischer 1878). Die Chewsuren wohnen in den höchsten Thälern des Kaukasus, östlich vom Kasbek-Berge, wo die riesigen Schneewasser dieses riesigen Alpengebirges zwischen schwarzen Schiefergebirgen sich zum Aragwa-Strome vereinigen. Alles in allem zählt das Volk, das in acht Genossenschaften zerfällt, nur 6000 Köpfe. Sie sind grusinischer Abkunft, darauf weisen ihre Traditionen, vor allem aber die Sprache hin, die ein antikes Grusinisch ist, das sich unbeeinflußt in den Verstecken des Hochgebirges erhielt. Nun kennen wir die Stellung der Chew¬ suren in der Völkerreihe. Käme es aber darauf an, diese brünetten, schwarz¬ haarigen Leute anthropologisch zu fixiren, so würden wir schwer eine Ant¬ wort geben können. „Ich will aus tausenden der Nachbarvölker den Chew¬ suren herauserkennen, auch wenn er nicht das originelle Kostüm oder die Rüstung trägt; aber ich kann darum doch keine Diagnose für die Chewsuren im Allgemeinen niederschreiben," sagt Radde. Sie sind aber ein Mischvolk, von vorwiegend grusinischer Basis, welches im Laufe der Jahrhunderte aus den Nachbarbevölkerungen sich in den Verstecken des Hochgebirges bildete und hier eine große Anzahl schon angebrachter sonderbarer Gebräuche konservirte, andere, beeinflußt durch eine wilde, unbändige Natur, in sich entwickelte und, sich um die Außenwelt absolut nicht kümmernd, den antiken Typus erhielt. Aber eines läßt den echten Chewsuren erkennen: ein Gesicht voll schmisse, wie es der wildeste Raufbold deutscher Hochschulen nicht schöner aufzuweisen vermag. Der mit eisernen Spitzzähnen am Daumen getragene Sazeruli-Ring hat den Kops und das Gesicht fast eines jeden Chewsuren einmal bearbeitet. Die Ohrfeige, mit ihm ausgeführt, reißt, vom Ohre beginnend die Wangenfläche auf und streift nicht selten den Nasengipfel wie eine gerecht durchgerissene Quart, und so sind denn bei den männlichen Chewsnren wenig unverletzte Nasen zu finden. Die Mädchen dagegen bieten die frischesten und drallsten Körperformen, die man sich denken kann. „So etwas von strotzender Gesundheit, ohne zu große Ueppigkeit, wird man schwerlich bei zahmeren Völkern finden." Begleiten wir kurz dies merkwürdige Völkchen von der Wiege bis zur Bahre. Das Chewsurenweib darf uicht im Hause oder im heimathlichen Dorfe gebären; das schwangere Weib ist unrein und kommt in einer elenden Stroh¬ hütte im Gebirge ohne jede Hilfe, nicht selten bei 20 Grad Kälte nieder; da liegt sie auf Stroh allein, ganz allein ohne irgend welche Hilfe. Und doch vollzieht sich der W leicht und normal. Dann muß das Weib mit dem Kinde noch einen vollen Monat in der elenden Hütte zubringen: die Nahrung, unge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/474>, abgerufen am 05.02.2025.