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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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lungen. "Die schuldige Hand", das "Märchen von den zwei Fröschen, welche
das Nähen lernten", "Jmmerhöher", "die alte Standuhr", "Theerpitterchen's
Tochter", "die sieben Hulegeisterchen", "die Knnstpuppe", "der Schneider und
die Wölse", "die Hühnerbnrg", "die Unglücksraben", "der Minimus", "die
drei Brillen" -- das sind Märchen, die kein deutsches Kind vergessen, die es
immer wieder erzählt verlangen oder lesen wird -- wenn auch bei manchen,
nach dem Vorbild der eigentlichen "Fabel", der Verfasser wenig mehr bietet,
als daß er Thiere oder stimmlose Gegenstände mit menschlicher Sprache, Ueber-
legung und Handlung ausrüstet, oftmals ohne jede eigentlich märchenhafte
Zuthat. Noch mehr den Fabelcharakter tragen die Humoresken "der junge
Schmetterling", "die Hochzeitsreise", "die Schneckenpost", "Prahlhans" und
die ernsten "Märchen": "Der Thautropfen", "der Todtengräber". Einige der
Blüthgen'scheu Märchen aber gehen -- darüber wird auch der Dichter selbst
sich kaum täuschen -- entschieden den über kindlichen Horizont hinaus; sie
mögen dein Kinde wohl verständlich sein nach dem Gang der Handlung, keines¬
wegs aber in ihrer tieferen ethischen Absicht. Dahin zählen wir einigermaßen
schon "der Haidegeist", "die Spinnenprinzessin", "der Todtengräber", ganz be¬
sonders aber "der Brautspiegel", "der Ring des Bildhauers", "Benezia" und
"Allerseelennacht" -- denn daß z. B. ein Kind nicht begreisen kann und soll,
daß ein Mutterherz seines todten Kindes vergessen könne, bedarf wohl nicht
näherer Begründung. Wenn wir diese Phantasiebilder des Verfassers daher
auch nicht zu den nach seiner eigenen Definition guten "Märchen" zählen,
so sind sie dagegen nicht minder schöne, durchgearbeitete Allegorien, ja wohl
einige der schönsten der ganzen Sammlung. Nur nebenbei möchten wir unsere
Verwunderung darüber aussprechen, daß der Verfasser in der Schreibweise
substantivischer Adjektivwörter (die er klein schreibt), in dem Worte "Weißheit"
und dergleichen in einem für die Angen von lernenden Kindern bestimmten
Buche von der Othographie der Schulen so wesentlich abweicht. Geradezu
unrichtig ist der Name Fallen statt Faliero in "Venezia".*)

Ueberraschen muß es, daß keine der deutschen Jugendschriften-Verlags-
handluugen, welche neben der Unterhaltung auch Belehrung der Jugend auf
den Gebieten der Geschichte, Geographie und Völkerkunde erstreben, die große
Afrikareise Stanley's für das Verständniß der reiferen Jugend zurechtgemacht
hat. Die Erzählung des Amerikaners ist ja so lebendig und dramatisch, der



Z> Vgl. H, Krusc, "Marino Faliero" und "über historische Dramen" in der
Gegenwart.

lungen. „Die schuldige Hand", das „Märchen von den zwei Fröschen, welche
das Nähen lernten", „Jmmerhöher", „die alte Standuhr", „Theerpitterchen's
Tochter", „die sieben Hulegeisterchen", „die Knnstpuppe", „der Schneider und
die Wölse", „die Hühnerbnrg", „die Unglücksraben", „der Minimus", „die
drei Brillen" — das sind Märchen, die kein deutsches Kind vergessen, die es
immer wieder erzählt verlangen oder lesen wird — wenn auch bei manchen,
nach dem Vorbild der eigentlichen „Fabel", der Verfasser wenig mehr bietet,
als daß er Thiere oder stimmlose Gegenstände mit menschlicher Sprache, Ueber-
legung und Handlung ausrüstet, oftmals ohne jede eigentlich märchenhafte
Zuthat. Noch mehr den Fabelcharakter tragen die Humoresken „der junge
Schmetterling", „die Hochzeitsreise", „die Schneckenpost", „Prahlhans" und
die ernsten „Märchen": „Der Thautropfen", „der Todtengräber". Einige der
Blüthgen'scheu Märchen aber gehen — darüber wird auch der Dichter selbst
sich kaum täuschen — entschieden den über kindlichen Horizont hinaus; sie
mögen dein Kinde wohl verständlich sein nach dem Gang der Handlung, keines¬
wegs aber in ihrer tieferen ethischen Absicht. Dahin zählen wir einigermaßen
schon „der Haidegeist", „die Spinnenprinzessin", „der Todtengräber", ganz be¬
sonders aber „der Brautspiegel", „der Ring des Bildhauers", „Benezia" und
„Allerseelennacht" — denn daß z. B. ein Kind nicht begreisen kann und soll,
daß ein Mutterherz seines todten Kindes vergessen könne, bedarf wohl nicht
näherer Begründung. Wenn wir diese Phantasiebilder des Verfassers daher
auch nicht zu den nach seiner eigenen Definition guten „Märchen" zählen,
so sind sie dagegen nicht minder schöne, durchgearbeitete Allegorien, ja wohl
einige der schönsten der ganzen Sammlung. Nur nebenbei möchten wir unsere
Verwunderung darüber aussprechen, daß der Verfasser in der Schreibweise
substantivischer Adjektivwörter (die er klein schreibt), in dem Worte „Weißheit"
und dergleichen in einem für die Angen von lernenden Kindern bestimmten
Buche von der Othographie der Schulen so wesentlich abweicht. Geradezu
unrichtig ist der Name Fallen statt Faliero in „Venezia".*)

Ueberraschen muß es, daß keine der deutschen Jugendschriften-Verlags-
handluugen, welche neben der Unterhaltung auch Belehrung der Jugend auf
den Gebieten der Geschichte, Geographie und Völkerkunde erstreben, die große
Afrikareise Stanley's für das Verständniß der reiferen Jugend zurechtgemacht
hat. Die Erzählung des Amerikaners ist ja so lebendig und dramatisch, der



Z> Vgl. H, Krusc, „Marino Faliero" und „über historische Dramen" in der
Gegenwart.
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[0402] lungen. „Die schuldige Hand", das „Märchen von den zwei Fröschen, welche das Nähen lernten", „Jmmerhöher", „die alte Standuhr", „Theerpitterchen's Tochter", „die sieben Hulegeisterchen", „die Knnstpuppe", „der Schneider und die Wölse", „die Hühnerbnrg", „die Unglücksraben", „der Minimus", „die drei Brillen" — das sind Märchen, die kein deutsches Kind vergessen, die es immer wieder erzählt verlangen oder lesen wird — wenn auch bei manchen, nach dem Vorbild der eigentlichen „Fabel", der Verfasser wenig mehr bietet, als daß er Thiere oder stimmlose Gegenstände mit menschlicher Sprache, Ueber- legung und Handlung ausrüstet, oftmals ohne jede eigentlich märchenhafte Zuthat. Noch mehr den Fabelcharakter tragen die Humoresken „der junge Schmetterling", „die Hochzeitsreise", „die Schneckenpost", „Prahlhans" und die ernsten „Märchen": „Der Thautropfen", „der Todtengräber". Einige der Blüthgen'scheu Märchen aber gehen — darüber wird auch der Dichter selbst sich kaum täuschen — entschieden den über kindlichen Horizont hinaus; sie mögen dein Kinde wohl verständlich sein nach dem Gang der Handlung, keines¬ wegs aber in ihrer tieferen ethischen Absicht. Dahin zählen wir einigermaßen schon „der Haidegeist", „die Spinnenprinzessin", „der Todtengräber", ganz be¬ sonders aber „der Brautspiegel", „der Ring des Bildhauers", „Benezia" und „Allerseelennacht" — denn daß z. B. ein Kind nicht begreisen kann und soll, daß ein Mutterherz seines todten Kindes vergessen könne, bedarf wohl nicht näherer Begründung. Wenn wir diese Phantasiebilder des Verfassers daher auch nicht zu den nach seiner eigenen Definition guten „Märchen" zählen, so sind sie dagegen nicht minder schöne, durchgearbeitete Allegorien, ja wohl einige der schönsten der ganzen Sammlung. Nur nebenbei möchten wir unsere Verwunderung darüber aussprechen, daß der Verfasser in der Schreibweise substantivischer Adjektivwörter (die er klein schreibt), in dem Worte „Weißheit" und dergleichen in einem für die Angen von lernenden Kindern bestimmten Buche von der Othographie der Schulen so wesentlich abweicht. Geradezu unrichtig ist der Name Fallen statt Faliero in „Venezia".*) Ueberraschen muß es, daß keine der deutschen Jugendschriften-Verlags- handluugen, welche neben der Unterhaltung auch Belehrung der Jugend auf den Gebieten der Geschichte, Geographie und Völkerkunde erstreben, die große Afrikareise Stanley's für das Verständniß der reiferen Jugend zurechtgemacht hat. Die Erzählung des Amerikaners ist ja so lebendig und dramatisch, der Z> Vgl. H, Krusc, „Marino Faliero" und „über historische Dramen" in der Gegenwart.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/402>, abgerufen am 05.02.2025.