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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Habe sollte zurückgelassen werden. "Es war am Weihnachtsabend", erzählt
Eyre, "und wohl niemals war für englische Soldaten fern von der Heimath
ein sorgen- und leidvollerer Tag erschienen, auch hatten nur Wenige unter
uns Seelenruhe und Muth genug, sich ein msrr^ Ollristill^L zu wünschen."
Major Pottinger setzte nicht das geringste Vertrauen auf das Wort der Af¬
ghanen und wollte sich schlechterdings auf nichts einlassen, aber er wurde im
Kriegsrathe überstimmt. Elphinstone ließ dann im Lager durch Anschlag be¬
kannt machen, daß denen, welche sich freiwillig als Geiseln stellten, 2000
Rupien als monatlicher Bezug zugesichert würden. Da aber die Offiziere ein-
müthig erklärten, daß sie ihre Frauen eher todten als den Barbaren ausliefern
würden, ging die Antwort zurück, daß die Auslieferung von Frauen und
Kindern als Geiseln gegen den Kriegsgebrauch sei. Trotzdem kam eine Ver¬
einbarung zu Stande; der Abmarsch jedoch wurde unter immer neuen Vor¬
wänden hinausgeschoben. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Verrath
gesponnen wurde. Der Schah Soudja selbst ließ es nicht an Warnungen fehlen
und ersuchte unter Anderm die Lady Mac-Nagthen, sich unter seinen Schutz
in die Zitadelle zu begeben. Auch dieses Anerbieten wurde zurückgewiesen.
Endlich schlug die Stunde zum Aufbruche. -- Die Schilderung der furchtbaren
Leiden und Heimsuchungen des kleinen britischen Heeres auf diesem jammer¬
vollen Rückzüge erinnert, sowohl was die allgemeine Situation betrifft, wie
auch in zahlreichen einzelnen Vorgängen an das elende Schicksal der großen
Armee im russischen Feldzuge, und wenn sich auch die Ereignisse in einem
engeren Rahmen bewegten und von geringerer weltgeschichtlicher Bedeutung
waren, so mag doch im Hinblick auf das Maß der vom Einzelnen ertragenen
Leiden und Entbehrungen im Kampfe mit den Feinden und den Elementen
der Vergleich als zutreffend erscheinen.

Siebzehntausend Männer, Frauen und Kinder zogen am 6. Januar aus
dem englischen Lager fort, und am 13., eine Woche später, waren davon noch
am Leben einige wenige Gefangene, alle Uebrigen waren Leichen!

Unter diesen 17,000 Menschen, die sich in die Schluchten und Engpässe
des Hochgebirges hineinwagten, waren nicht mehr als 4500 Kombattanten und
darunter die indischen Eingeborenen. Die ganze übrige Masse bestand aus
dem Trosse der Diener der Offiziere und der Mannschaften. Dieser für mili¬
tärische Zwecke völlig unbrauchbare Haufe, zu dem sich noch die große Anzahl
von Frauen und Kindern gesellte, muß als eine der Hauptsachen der schreck¬
haft schnellen und vollständigen Aufreibung des britischen Heeres angesehen
werden, da er die heilloseste Verwirrung hervorrief und die Ausführung der
zur Aufrechterhaltung der Subordination ertheilten Befehle und überhaupt einen
einigermaßen geordneten Rückzug zur Unmöglichkeit machte. Die Frau des


Habe sollte zurückgelassen werden. „Es war am Weihnachtsabend", erzählt
Eyre, „und wohl niemals war für englische Soldaten fern von der Heimath
ein sorgen- und leidvollerer Tag erschienen, auch hatten nur Wenige unter
uns Seelenruhe und Muth genug, sich ein msrr^ Ollristill^L zu wünschen."
Major Pottinger setzte nicht das geringste Vertrauen auf das Wort der Af¬
ghanen und wollte sich schlechterdings auf nichts einlassen, aber er wurde im
Kriegsrathe überstimmt. Elphinstone ließ dann im Lager durch Anschlag be¬
kannt machen, daß denen, welche sich freiwillig als Geiseln stellten, 2000
Rupien als monatlicher Bezug zugesichert würden. Da aber die Offiziere ein-
müthig erklärten, daß sie ihre Frauen eher todten als den Barbaren ausliefern
würden, ging die Antwort zurück, daß die Auslieferung von Frauen und
Kindern als Geiseln gegen den Kriegsgebrauch sei. Trotzdem kam eine Ver¬
einbarung zu Stande; der Abmarsch jedoch wurde unter immer neuen Vor¬
wänden hinausgeschoben. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Verrath
gesponnen wurde. Der Schah Soudja selbst ließ es nicht an Warnungen fehlen
und ersuchte unter Anderm die Lady Mac-Nagthen, sich unter seinen Schutz
in die Zitadelle zu begeben. Auch dieses Anerbieten wurde zurückgewiesen.
Endlich schlug die Stunde zum Aufbruche. — Die Schilderung der furchtbaren
Leiden und Heimsuchungen des kleinen britischen Heeres auf diesem jammer¬
vollen Rückzüge erinnert, sowohl was die allgemeine Situation betrifft, wie
auch in zahlreichen einzelnen Vorgängen an das elende Schicksal der großen
Armee im russischen Feldzuge, und wenn sich auch die Ereignisse in einem
engeren Rahmen bewegten und von geringerer weltgeschichtlicher Bedeutung
waren, so mag doch im Hinblick auf das Maß der vom Einzelnen ertragenen
Leiden und Entbehrungen im Kampfe mit den Feinden und den Elementen
der Vergleich als zutreffend erscheinen.

Siebzehntausend Männer, Frauen und Kinder zogen am 6. Januar aus
dem englischen Lager fort, und am 13., eine Woche später, waren davon noch
am Leben einige wenige Gefangene, alle Uebrigen waren Leichen!

Unter diesen 17,000 Menschen, die sich in die Schluchten und Engpässe
des Hochgebirges hineinwagten, waren nicht mehr als 4500 Kombattanten und
darunter die indischen Eingeborenen. Die ganze übrige Masse bestand aus
dem Trosse der Diener der Offiziere und der Mannschaften. Dieser für mili¬
tärische Zwecke völlig unbrauchbare Haufe, zu dem sich noch die große Anzahl
von Frauen und Kindern gesellte, muß als eine der Hauptsachen der schreck¬
haft schnellen und vollständigen Aufreibung des britischen Heeres angesehen
werden, da er die heilloseste Verwirrung hervorrief und die Ausführung der
zur Aufrechterhaltung der Subordination ertheilten Befehle und überhaupt einen
einigermaßen geordneten Rückzug zur Unmöglichkeit machte. Die Frau des


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[0387] Habe sollte zurückgelassen werden. „Es war am Weihnachtsabend", erzählt Eyre, „und wohl niemals war für englische Soldaten fern von der Heimath ein sorgen- und leidvollerer Tag erschienen, auch hatten nur Wenige unter uns Seelenruhe und Muth genug, sich ein msrr^ Ollristill^L zu wünschen." Major Pottinger setzte nicht das geringste Vertrauen auf das Wort der Af¬ ghanen und wollte sich schlechterdings auf nichts einlassen, aber er wurde im Kriegsrathe überstimmt. Elphinstone ließ dann im Lager durch Anschlag be¬ kannt machen, daß denen, welche sich freiwillig als Geiseln stellten, 2000 Rupien als monatlicher Bezug zugesichert würden. Da aber die Offiziere ein- müthig erklärten, daß sie ihre Frauen eher todten als den Barbaren ausliefern würden, ging die Antwort zurück, daß die Auslieferung von Frauen und Kindern als Geiseln gegen den Kriegsgebrauch sei. Trotzdem kam eine Ver¬ einbarung zu Stande; der Abmarsch jedoch wurde unter immer neuen Vor¬ wänden hinausgeschoben. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß Verrath gesponnen wurde. Der Schah Soudja selbst ließ es nicht an Warnungen fehlen und ersuchte unter Anderm die Lady Mac-Nagthen, sich unter seinen Schutz in die Zitadelle zu begeben. Auch dieses Anerbieten wurde zurückgewiesen. Endlich schlug die Stunde zum Aufbruche. — Die Schilderung der furchtbaren Leiden und Heimsuchungen des kleinen britischen Heeres auf diesem jammer¬ vollen Rückzüge erinnert, sowohl was die allgemeine Situation betrifft, wie auch in zahlreichen einzelnen Vorgängen an das elende Schicksal der großen Armee im russischen Feldzuge, und wenn sich auch die Ereignisse in einem engeren Rahmen bewegten und von geringerer weltgeschichtlicher Bedeutung waren, so mag doch im Hinblick auf das Maß der vom Einzelnen ertragenen Leiden und Entbehrungen im Kampfe mit den Feinden und den Elementen der Vergleich als zutreffend erscheinen. Siebzehntausend Männer, Frauen und Kinder zogen am 6. Januar aus dem englischen Lager fort, und am 13., eine Woche später, waren davon noch am Leben einige wenige Gefangene, alle Uebrigen waren Leichen! Unter diesen 17,000 Menschen, die sich in die Schluchten und Engpässe des Hochgebirges hineinwagten, waren nicht mehr als 4500 Kombattanten und darunter die indischen Eingeborenen. Die ganze übrige Masse bestand aus dem Trosse der Diener der Offiziere und der Mannschaften. Dieser für mili¬ tärische Zwecke völlig unbrauchbare Haufe, zu dem sich noch die große Anzahl von Frauen und Kindern gesellte, muß als eine der Hauptsachen der schreck¬ haft schnellen und vollständigen Aufreibung des britischen Heeres angesehen werden, da er die heilloseste Verwirrung hervorrief und die Ausführung der zur Aufrechterhaltung der Subordination ertheilten Befehle und überhaupt einen einigermaßen geordneten Rückzug zur Unmöglichkeit machte. Die Frau des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/387>, abgerufen am 05.02.2025.