Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

des "Wintermärchens", die Wiederbelebung der Hermione, gehören zu dem
Besten, was wir je der Art auf der Bühne gesehen. Unter den Massenszenen
heben wir als besonders gelungen namentlich die Erstürmung von Doria's
Palast im "Fiesco", und im "Wintermärchen" die großartige Gerichtsszene
hervor. Die Volksszenen im "Tell" blieben etwas hinter unsern Erwartungen
zurück. Möglicherweise waren die Intentionen der Meininger hier durch deu
beschränkten Raum der alten Leipziger Bühne in ihrer vollen Entfaltung ge¬
hemmt.

Auf der audern Seite können wir freilich nicht verschweigen, daß die
Gefahren, mit denen technische Virtuosität immer verknüpft ist, auch diesmal
wieder sichtbar wurden. Das Bedenken zwar, das wir nach den ersten Vor¬
stellungen äußerten, als ob die glänzende und historisch getreue Ausstattung
von der Handlung abziehe, möchten wir nicht aufrecht erhalten; es ist mit
jeder Vorstellung mehr geschwunden. Derartige Dinge ziehen ab, so lange sie
etwas Neues, Ungewohntes sind. In den späteren Vorstellungen gewöhnte
man sich daran, sie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und schenkte
ihnen keine größere Aufmerksamkeit mehr, als sie beanspruchen dürfen. Dagegen
hatte das Streben nach möglichstem Naturalismus auch diesmal wieder einzelne
verletzende Momente. Dahin rechnen wir das ununterbrochene Volksgemurmel
aus der Straße, welches die Szene in Fiesco's Palast zwischen Fiesco und
den Handwerkern begleitete. Dieses monotone Getöse, das mit dem Murren
einer ciufgeregteu Volksmasse nicht einmal rechte Ähnlichkeit hatte, war sehr
störend. Man hörte z. B. deutlich eine Stimme heraus, die unausgesetzt mit
häßlicher Eintönigkeit vor sich hinplärrte: Fiesco, Fiesco, Fiesco, Fiesco ....
Das wäre komisch gewesen, Wenn's nicht eben ärgerlich gewesen wäre. Be¬
denklich ist es auch, wenn die Vorliebe für interessante Dekorationen dazu
verleitet, von den bestimmten Vorschriften des Dichters abzugehen, wie es z. B.
im ersten Akte des "Fiesco" der Fall war. Hier schreibt Schiller vor: "Saal
bei Fiesco". Bei dem Mordversuch des Mohren heißt es: "Fiesco tritt vor
einen Spiegel und schielt über das Papier. Der Mohr geht lauernd um ihn
herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen." Die Meininger verlegen
diesen ganzen Akt in einen Hof von Fiesco's Palast mit Treppenaufgängen --
allerdings ein prächtiger, höchst wirkungsvoller Anblick, aber die Ergreifung
des Mohren verliert dabei alle Wahrscheinlichkeit.

Man hat behauptet, daß es sehr wohlfeil sei, eine Durcharbeitung und
ein Studium, wie es die Meininger zeigen, andern Bühnen als Muster auf
zustellen; es sei eine Thorheit, von Theatern, die darauf angewiesen seien, ihrem
Publikum stets neue Stücke vorzuführen, ein solches nur ausnahmsweise er¬
reichbares Virtuosenthum in der szenischen Detailmalerci oder Ausstattungen,


Gvmzbotm IV, 1878. 40

des „Wintermärchens", die Wiederbelebung der Hermione, gehören zu dem
Besten, was wir je der Art auf der Bühne gesehen. Unter den Massenszenen
heben wir als besonders gelungen namentlich die Erstürmung von Doria's
Palast im „Fiesco", und im „Wintermärchen" die großartige Gerichtsszene
hervor. Die Volksszenen im „Tell" blieben etwas hinter unsern Erwartungen
zurück. Möglicherweise waren die Intentionen der Meininger hier durch deu
beschränkten Raum der alten Leipziger Bühne in ihrer vollen Entfaltung ge¬
hemmt.

Auf der audern Seite können wir freilich nicht verschweigen, daß die
Gefahren, mit denen technische Virtuosität immer verknüpft ist, auch diesmal
wieder sichtbar wurden. Das Bedenken zwar, das wir nach den ersten Vor¬
stellungen äußerten, als ob die glänzende und historisch getreue Ausstattung
von der Handlung abziehe, möchten wir nicht aufrecht erhalten; es ist mit
jeder Vorstellung mehr geschwunden. Derartige Dinge ziehen ab, so lange sie
etwas Neues, Ungewohntes sind. In den späteren Vorstellungen gewöhnte
man sich daran, sie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und schenkte
ihnen keine größere Aufmerksamkeit mehr, als sie beanspruchen dürfen. Dagegen
hatte das Streben nach möglichstem Naturalismus auch diesmal wieder einzelne
verletzende Momente. Dahin rechnen wir das ununterbrochene Volksgemurmel
aus der Straße, welches die Szene in Fiesco's Palast zwischen Fiesco und
den Handwerkern begleitete. Dieses monotone Getöse, das mit dem Murren
einer ciufgeregteu Volksmasse nicht einmal rechte Ähnlichkeit hatte, war sehr
störend. Man hörte z. B. deutlich eine Stimme heraus, die unausgesetzt mit
häßlicher Eintönigkeit vor sich hinplärrte: Fiesco, Fiesco, Fiesco, Fiesco ....
Das wäre komisch gewesen, Wenn's nicht eben ärgerlich gewesen wäre. Be¬
denklich ist es auch, wenn die Vorliebe für interessante Dekorationen dazu
verleitet, von den bestimmten Vorschriften des Dichters abzugehen, wie es z. B.
im ersten Akte des „Fiesco" der Fall war. Hier schreibt Schiller vor: „Saal
bei Fiesco". Bei dem Mordversuch des Mohren heißt es: „Fiesco tritt vor
einen Spiegel und schielt über das Papier. Der Mohr geht lauernd um ihn
herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen." Die Meininger verlegen
diesen ganzen Akt in einen Hof von Fiesco's Palast mit Treppenaufgängen —
allerdings ein prächtiger, höchst wirkungsvoller Anblick, aber die Ergreifung
des Mohren verliert dabei alle Wahrscheinlichkeit.

Man hat behauptet, daß es sehr wohlfeil sei, eine Durcharbeitung und
ein Studium, wie es die Meininger zeigen, andern Bühnen als Muster auf
zustellen; es sei eine Thorheit, von Theatern, die darauf angewiesen seien, ihrem
Publikum stets neue Stücke vorzuführen, ein solches nur ausnahmsweise er¬
reichbares Virtuosenthum in der szenischen Detailmalerci oder Ausstattungen,


Gvmzbotm IV, 1878. 40
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/141196"/>
          <p xml:id="ID_1079" prev="#ID_1078"> des &#x201E;Wintermärchens", die Wiederbelebung der Hermione, gehören zu dem<lb/>
Besten, was wir je der Art auf der Bühne gesehen. Unter den Massenszenen<lb/>
heben wir als besonders gelungen namentlich die Erstürmung von Doria's<lb/>
Palast im &#x201E;Fiesco", und im &#x201E;Wintermärchen" die großartige Gerichtsszene<lb/>
hervor. Die Volksszenen im &#x201E;Tell" blieben etwas hinter unsern Erwartungen<lb/>
zurück. Möglicherweise waren die Intentionen der Meininger hier durch deu<lb/>
beschränkten Raum der alten Leipziger Bühne in ihrer vollen Entfaltung ge¬<lb/>
hemmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1080"> Auf der audern Seite können wir freilich nicht verschweigen, daß die<lb/>
Gefahren, mit denen technische Virtuosität immer verknüpft ist, auch diesmal<lb/>
wieder sichtbar wurden. Das Bedenken zwar, das wir nach den ersten Vor¬<lb/>
stellungen äußerten, als ob die glänzende und historisch getreue Ausstattung<lb/>
von der Handlung abziehe, möchten wir nicht aufrecht erhalten; es ist mit<lb/>
jeder Vorstellung mehr geschwunden. Derartige Dinge ziehen ab, so lange sie<lb/>
etwas Neues, Ungewohntes sind. In den späteren Vorstellungen gewöhnte<lb/>
man sich daran, sie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und schenkte<lb/>
ihnen keine größere Aufmerksamkeit mehr, als sie beanspruchen dürfen. Dagegen<lb/>
hatte das Streben nach möglichstem Naturalismus auch diesmal wieder einzelne<lb/>
verletzende Momente. Dahin rechnen wir das ununterbrochene Volksgemurmel<lb/>
aus der Straße, welches die Szene in Fiesco's Palast zwischen Fiesco und<lb/>
den Handwerkern begleitete. Dieses monotone Getöse, das mit dem Murren<lb/>
einer ciufgeregteu Volksmasse nicht einmal rechte Ähnlichkeit hatte, war sehr<lb/>
störend. Man hörte z. B. deutlich eine Stimme heraus, die unausgesetzt mit<lb/>
häßlicher Eintönigkeit vor sich hinplärrte: Fiesco, Fiesco, Fiesco, Fiesco ....<lb/>
Das wäre komisch gewesen, Wenn's nicht eben ärgerlich gewesen wäre. Be¬<lb/>
denklich ist es auch, wenn die Vorliebe für interessante Dekorationen dazu<lb/>
verleitet, von den bestimmten Vorschriften des Dichters abzugehen, wie es z. B.<lb/>
im ersten Akte des &#x201E;Fiesco" der Fall war. Hier schreibt Schiller vor: &#x201E;Saal<lb/>
bei Fiesco". Bei dem Mordversuch des Mohren heißt es: &#x201E;Fiesco tritt vor<lb/>
einen Spiegel und schielt über das Papier. Der Mohr geht lauernd um ihn<lb/>
herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen." Die Meininger verlegen<lb/>
diesen ganzen Akt in einen Hof von Fiesco's Palast mit Treppenaufgängen &#x2014;<lb/>
allerdings ein prächtiger, höchst wirkungsvoller Anblick, aber die Ergreifung<lb/>
des Mohren verliert dabei alle Wahrscheinlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1081" next="#ID_1082"> Man hat behauptet, daß es sehr wohlfeil sei, eine Durcharbeitung und<lb/>
ein Studium, wie es die Meininger zeigen, andern Bühnen als Muster auf<lb/>
zustellen; es sei eine Thorheit, von Theatern, die darauf angewiesen seien, ihrem<lb/>
Publikum stets neue Stücke vorzuführen, ein solches nur ausnahmsweise er¬<lb/>
reichbares Virtuosenthum in der szenischen Detailmalerci oder Ausstattungen,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gvmzbotm IV, 1878. 40</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0317] des „Wintermärchens", die Wiederbelebung der Hermione, gehören zu dem Besten, was wir je der Art auf der Bühne gesehen. Unter den Massenszenen heben wir als besonders gelungen namentlich die Erstürmung von Doria's Palast im „Fiesco", und im „Wintermärchen" die großartige Gerichtsszene hervor. Die Volksszenen im „Tell" blieben etwas hinter unsern Erwartungen zurück. Möglicherweise waren die Intentionen der Meininger hier durch deu beschränkten Raum der alten Leipziger Bühne in ihrer vollen Entfaltung ge¬ hemmt. Auf der audern Seite können wir freilich nicht verschweigen, daß die Gefahren, mit denen technische Virtuosität immer verknüpft ist, auch diesmal wieder sichtbar wurden. Das Bedenken zwar, das wir nach den ersten Vor¬ stellungen äußerten, als ob die glänzende und historisch getreue Ausstattung von der Handlung abziehe, möchten wir nicht aufrecht erhalten; es ist mit jeder Vorstellung mehr geschwunden. Derartige Dinge ziehen ab, so lange sie etwas Neues, Ungewohntes sind. In den späteren Vorstellungen gewöhnte man sich daran, sie als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und schenkte ihnen keine größere Aufmerksamkeit mehr, als sie beanspruchen dürfen. Dagegen hatte das Streben nach möglichstem Naturalismus auch diesmal wieder einzelne verletzende Momente. Dahin rechnen wir das ununterbrochene Volksgemurmel aus der Straße, welches die Szene in Fiesco's Palast zwischen Fiesco und den Handwerkern begleitete. Dieses monotone Getöse, das mit dem Murren einer ciufgeregteu Volksmasse nicht einmal rechte Ähnlichkeit hatte, war sehr störend. Man hörte z. B. deutlich eine Stimme heraus, die unausgesetzt mit häßlicher Eintönigkeit vor sich hinplärrte: Fiesco, Fiesco, Fiesco, Fiesco .... Das wäre komisch gewesen, Wenn's nicht eben ärgerlich gewesen wäre. Be¬ denklich ist es auch, wenn die Vorliebe für interessante Dekorationen dazu verleitet, von den bestimmten Vorschriften des Dichters abzugehen, wie es z. B. im ersten Akte des „Fiesco" der Fall war. Hier schreibt Schiller vor: „Saal bei Fiesco". Bei dem Mordversuch des Mohren heißt es: „Fiesco tritt vor einen Spiegel und schielt über das Papier. Der Mohr geht lauernd um ihn herum, endlich zieht er den Dolch und will stoßen." Die Meininger verlegen diesen ganzen Akt in einen Hof von Fiesco's Palast mit Treppenaufgängen — allerdings ein prächtiger, höchst wirkungsvoller Anblick, aber die Ergreifung des Mohren verliert dabei alle Wahrscheinlichkeit. Man hat behauptet, daß es sehr wohlfeil sei, eine Durcharbeitung und ein Studium, wie es die Meininger zeigen, andern Bühnen als Muster auf zustellen; es sei eine Thorheit, von Theatern, die darauf angewiesen seien, ihrem Publikum stets neue Stücke vorzuführen, ein solches nur ausnahmsweise er¬ reichbares Virtuosenthum in der szenischen Detailmalerci oder Ausstattungen, Gvmzbotm IV, 1878. 40

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/317
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/317>, abgerufen am 05.02.2025.