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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Setzung keine Andeutung enthält, aber doch in der großen Schlußszene zwischen
Ahasver und Esther, die ebenso durch feine Seelemnalerei wie dnrch drama¬
tische Steigerung hervorragt, einen befriedigenden interimistischen Abschluß findet.
Mit der Aufnahme dieses Bruchstückes in ihr Repertoire haben die Meininger
sogar einen guten Griff gethan. Bedenklich ist die Wahl des Shakespeare'schen
und des Moliere'sehen Stückes -- übrigens merkwürdiger Weise der letzten
Stücke, die beide Dichter vor ihrem Tode geschrieben. Das "Wintermärchen",
die Bearbeitung eines Greene'schen Ritter- und Schäferromans, ist eins der
wunderlichsten Produkte der Shakespeare'schen Muse: ein Schauspiel, das eigent¬
lich in zwei Schauspiele zerfällt, in den ersten drei Akten eine düstere Tragödie
der Eifersucht mit scheinbar tragischen Ausgange, in den letzten beiden ein
halb sentimentales, halb possenhaftes Idyll, an dessen Schluß die vorausge¬
gangene Tragödie einen heiteren Ausgang findet, die zwischen beiden Hand¬
lungen liegende Kluft aber phantastisch überbrückt durch ein Mittelding von
Epilog und Prolog, der der Allegorie der "Zeit" in den Mund gelegt ist.
Dazu die tolle Phantastik, mit der der Dichter -- in engem Anschluß an seine
Quelle -- mit Geographie und Geschichte umspringt: zwei Fürsten, Polyxenes
und Leontes, von denen der eine über Böhmen, der andere über Sicilien
herrscht, in gastfreundschaftlichem Verkehr mit einander; Hermione, die Gemahlin
des Letzteren, eine Tochter des Kaisers von Rußland; die Unschuld der Hermione
bewiesen durch ein Apollonorakel, das von der "Insel" Delphi in einem gothischen
Reliquienschrein gebracht wird; Böhmen an der Meeresküste liegend; im Innern
des Landes arkadische Schäfer, die sich an dem altenglischen Schafschurfeste
ergötzen; Giulio Romano als Bildhauer und Verfertiger einer Statue der
Hermione -- von all' der andern märchenhaften Zuthat zu schweigen -- wie
soll sich das heutige Publikum zu einer solchen Schöpfung stellen! Und nicht
viel anders, wenn auch immerhin etwas anders, verhält sich's mit dem Lust¬
spiele Moliere's, Die übermüthige Satire, mit der der Dichter sich hier selbst noch
am Rande des Grabes in der Figur des Argau dem Gelächter der Masse
Preisgibt, verzweifelnd, daß alle Mittel der Heilwissenschaft ihn im Stiche- ge¬
lassen, und der grausige Galgenhumor, mit dem er die ganze Arzneikunst als
eitel Quacksalberei und Charlatanerie verspottet, die blos die Dummheit der
Menschen aufhenke --- wie steht einem solchen Tendenzstücke, trotz allen An¬
hangs, dessen sich die Wasserdokterei und der Geheimmittelschwindel gegenwärtig
erfreut, doch im Ganzen das verständige und aufgeklärte Publikum unserer
Tage gegenüber? Es gehört entschieden eine gute Dosis kultnr- und literar-
geschichtlichen Interesses dazu, um an solchen Stücken volle Freude zu haben,
und ihr allgemein menschlicher und poetischer Gehalt würde nicht ausreichen, sie
jetzt über Wasser zu halten, wenn es der Darstellung uicht gelingt, auch dem


Setzung keine Andeutung enthält, aber doch in der großen Schlußszene zwischen
Ahasver und Esther, die ebenso durch feine Seelemnalerei wie dnrch drama¬
tische Steigerung hervorragt, einen befriedigenden interimistischen Abschluß findet.
Mit der Aufnahme dieses Bruchstückes in ihr Repertoire haben die Meininger
sogar einen guten Griff gethan. Bedenklich ist die Wahl des Shakespeare'schen
und des Moliere'sehen Stückes — übrigens merkwürdiger Weise der letzten
Stücke, die beide Dichter vor ihrem Tode geschrieben. Das „Wintermärchen",
die Bearbeitung eines Greene'schen Ritter- und Schäferromans, ist eins der
wunderlichsten Produkte der Shakespeare'schen Muse: ein Schauspiel, das eigent¬
lich in zwei Schauspiele zerfällt, in den ersten drei Akten eine düstere Tragödie
der Eifersucht mit scheinbar tragischen Ausgange, in den letzten beiden ein
halb sentimentales, halb possenhaftes Idyll, an dessen Schluß die vorausge¬
gangene Tragödie einen heiteren Ausgang findet, die zwischen beiden Hand¬
lungen liegende Kluft aber phantastisch überbrückt durch ein Mittelding von
Epilog und Prolog, der der Allegorie der „Zeit" in den Mund gelegt ist.
Dazu die tolle Phantastik, mit der der Dichter — in engem Anschluß an seine
Quelle — mit Geographie und Geschichte umspringt: zwei Fürsten, Polyxenes
und Leontes, von denen der eine über Böhmen, der andere über Sicilien
herrscht, in gastfreundschaftlichem Verkehr mit einander; Hermione, die Gemahlin
des Letzteren, eine Tochter des Kaisers von Rußland; die Unschuld der Hermione
bewiesen durch ein Apollonorakel, das von der „Insel" Delphi in einem gothischen
Reliquienschrein gebracht wird; Böhmen an der Meeresküste liegend; im Innern
des Landes arkadische Schäfer, die sich an dem altenglischen Schafschurfeste
ergötzen; Giulio Romano als Bildhauer und Verfertiger einer Statue der
Hermione — von all' der andern märchenhaften Zuthat zu schweigen — wie
soll sich das heutige Publikum zu einer solchen Schöpfung stellen! Und nicht
viel anders, wenn auch immerhin etwas anders, verhält sich's mit dem Lust¬
spiele Moliere's, Die übermüthige Satire, mit der der Dichter sich hier selbst noch
am Rande des Grabes in der Figur des Argau dem Gelächter der Masse
Preisgibt, verzweifelnd, daß alle Mittel der Heilwissenschaft ihn im Stiche- ge¬
lassen, und der grausige Galgenhumor, mit dem er die ganze Arzneikunst als
eitel Quacksalberei und Charlatanerie verspottet, die blos die Dummheit der
Menschen aufhenke -— wie steht einem solchen Tendenzstücke, trotz allen An¬
hangs, dessen sich die Wasserdokterei und der Geheimmittelschwindel gegenwärtig
erfreut, doch im Ganzen das verständige und aufgeklärte Publikum unserer
Tage gegenüber? Es gehört entschieden eine gute Dosis kultnr- und literar-
geschichtlichen Interesses dazu, um an solchen Stücken volle Freude zu haben,
und ihr allgemein menschlicher und poetischer Gehalt würde nicht ausreichen, sie
jetzt über Wasser zu halten, wenn es der Darstellung uicht gelingt, auch dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/315>, abgerufen am 05.02.2025.