Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.Volk sich erhebt. Dann kann man mit der Regierung streiten und mit dem Wir brechen hier ab. Das Geschick, welches sie mehrmals schon bedrohte, Aus dem, was sie ehrlich berichtet, scheint uns zweierlei mit Sicherheit GrenzlwtiM IV. 1L7L, ö7
Volk sich erhebt. Dann kann man mit der Regierung streiten und mit dem Wir brechen hier ab. Das Geschick, welches sie mehrmals schon bedrohte, Aus dem, was sie ehrlich berichtet, scheint uns zweierlei mit Sicherheit GrenzlwtiM IV. 1L7L, ö7
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Volk sich erhebt. Dann kann man mit der Regierung streiten und mit dem
Heere;" sie will diese günstige Gelegenheit sich nicht entschlüpfen lassen, und
verabredet deshalb mit ihm eiuen Ausflug nach dem Dorfe, um sich mit den
drei Bauern, von denen er gesprochen, in Verbindung zu setzen. Aber das
Glück ist ihr nicht hold; schon am andern Morgen zwingt sie eine Nachricht,
weiter zu gehen.
Wir brechen hier ab. Das Geschick, welches sie mehrmals schon bedrohte,
hat die Abgesandte des revolutionären Komites schließlich ereilt. Die Verhaf¬
tung eines Gesinnungsgenossen, der ihre vollständige Adresse bei sich führte,
verrieth ihre Spur. Auch sie wurde verhaftet. Man führte sie zur Feststel¬
lung des Thatbestandes durch dieselben Orte, in denen sie „gearbeitet" hatte,
und dabei hatte sie wenigstens die Genugthuung, daß keiner der Bauern gegen
sie aussagte, daß sie nur erklärten, sie habe unter ihnen gelebt, mit ihrem
Handwerk beschäftigt, aber weder Bücher bei sich sehen lassen noch irgend
welche „besondere" Gespräche geführt. Es half ihr wenig. Andere schwer
gravirende Indizien müssen hinzugekommen sein. In den Prozeß der 193
Nihilisten verwickelt, welcher im Oktober und November 1877 in Moskau zur
Verhandlung kam, wurde sie zu Zwangsarbeit (Katorga) verurtheilt.--
Aus dem, was sie ehrlich berichtet, scheint uns zweierlei mit Sicherheit
hervorzugehen. Einmal: die nihilistische Agitation findet, trotz zahlreicher un¬
leugbarer schwerer Uebelstände im russischen Volksleben, wenigstens vorläufig
uuter den Massen des Landvolks, auf die es in Rußland allein ankommt,
keinen Boden. Sie sind entweder so abgestumpft, daß sie an die Möglichkeit
einer Aenderung ihrer Lage nicht glauben können, oder sie weisen mit sicherem
Instinkte die Heilspredigten nihilistischer Agitatoren als phantastisch ab. Vor
allem aber bleibt ja diesen bei dem niederen Bildungsgrade des russischen
Bauern, der wenig oder gar nichts liest, nur der eine Weg der persönlichen,
mündlichen Wirksamkeit; die gewaltige Waffe einer weitverbreiteten Presse existirt
für sie gar nicht, und so lauge sie dieser entbehren und entbehren müssen, so
lange werden ihre Erfolge niemals über lokale hinausgehen. Sodann aber:
es find nicht eben die schlechtesten Leute, welche sich dem heillosen Gewerbe
nihilistischer Propaganda widmen; sie bringen einen Fond von Aufopferungs¬
fähigkeit, von zäher Entschlossenheit mit, der — um die triviale Redensart
anzuwenden — einer besseren Sache würdig wäre. Sollte es dem: ganz un¬
möglich sein, diese Kräfte vou der Thorheit ihres Treibens zu überzeugen und
sie in die Dienste einer vernünftigen, reformatorischen, nicht revolutionären
Arbeit zu ziehen? Von der Beantwortung dieser Frage, fürchten wir, hängt
ein guter Theil der russischen Zukunft, der Zukunft eines Volkes von sechszig
Millionen ab.
GrenzlwtiM IV. 1L7L, ö7
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